Mein langsames Leben

- | Deutschland 2001 | 85 Minuten

Regie: Angela Schanelec

Während ihre Freundin für ein halbes Jahr nach Rom zieht, erlebt eine Studentin Ende 20 im sommerlichen Berlin kleinere und größere Wechselfälle des Lebens. Ein lose gefügter, stark elliptischer Reigen tableauhafter Großstadtszenen, deren kontemplative Erzählweise über die Reflexion bürgerlicher Lebensweise hinaus in philosophisch-anthropologische Dimensionen vordringt. Vor allem durch die raffinierte Erweiterung des filmischen Raums über die Leinwand hinaus und die strikte Unvermittelheit der Figuren gelingt es, die exzentrische Grundstruktur menschlichen Daseins überaus sinnlich zu veranschaulichen. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Schramm Film/ZDF
Regie
Angela Schanelec
Buch
Angela Schanelec
Kamera
Reinhold Vorschneider
Schnitt
Bettina Böhler · Angela Schanelec
Darsteller
Ursina Lardi (Valerie) · Andreas Patton (Thomas) · Anne Tismer (Marie) · Wolfgang Michael (Maries Mann) · Sophie Aigner (Maria)
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Wenn ein Film in jeder Sprache einen anderen Titel trägt, kann das nicht allein an der Übersetzung liegen. „Mein langsames Leben“ nennt Angela Schanelec ihren jüngsten Film, aber auch „Passing Summer“ und „Sophie est partie pour six mois“ machen durchaus Sinn. Die französische Version trifft dabei den schwer fassbaren Inhalt insofern am besten, als die genannte Figur tatsächlich für ein halbes Jahr von der Bildfläche verschwunden ist. Mit Sophies Eröffnung, dass sie für sechs Monate nach Rom gehen werde, beginnt eine der spannendsten filmischen Erkundungen der Gegenwart, die der deutsche Film in den letzten Jahren hervorgebracht hat: eine ästhetisch gewagte, mit extremen Ellipsen arbeitende, cineastisch atemberaubende wie philosophisch tiefsinnige Meditation über die Leere und den Abgrund des Daseins. Im Zentrum der lose gereihten, nur scheinbar zufälligen Sequenzen steht Sophies Freundin Valerie, ein stille Endzwanzigerin mit kurzen Haaren und schlanker Gestalt, die den Sommer in Berlin verbringt. Über biografische Details erfährt man wenig; angeblich studiert sie Architektur, offenkundig aber widmet sie sich literarischen Versuchen. Vor kurzem ist sie als Untermieterin in eine helle Wohnung im Grünen gezogen; mit Marie, deren Mann Alexander und der kleinen Clara versteht sie sich gut. Dort lernt sie auch Thomas kennen, den sie bald öfters trifft. Als ihr Vater schwer erkrankt, reist sie nach Süddeutschland, trifft ihren Bruder und die Geliebte ihres Vaters. Der Herbst zieht ins Land, eine Hochzeit wird gefeiert, Marie wird schwanger und treibt ab, Alexander hat ein Verhältnis. Als Sophie nach Berlin zurückkehrt, liegt Schnee in den Straßen. Im Café wartet sie allerdings vergeblich auf Valerie; der Mann am Nebentisch fragt nach einer Zigarette, ein Gespräch entspinnt sich, zunächst zögerlich, dann mit wachsendem Interesse. Plötzlich ein harter Schnitt; man sieht Valeries Rücken vor einer regennassen Scheibe auf einem Schiff, eine Einstellung, die eine frühere aufgreift, als Valerie auf dem Weg zu ihrem Vater war. Dass der Vater inzwischen gestorben ist, erschließt sich nur aus der „Trauer“ des von Gewitterwolken verdunkelten Bildes, wie in „Mein langsames Leben“ überhaupt alles Wesentliche aktiv ergriffen werden muss, weil sich die Regie meisterhaft auf die Kunst der Auslassung versteht, was vom Zuschauer ein hohes Maß an Konzentration und kognitiver Beteiligung verlangt. Durch die ruhigen, sehr langen und konzentrierten Einstellungen und eine raffinierte Kadrierung verliert sich die mitunter extrem geraffte Handlung jedoch weder im Ungefähren noch im Zufälligen, auch wenn der Plot nicht viel mehr als eine imaginäre Szenerie für die einzelnen Tableaus skizzieren soll. Ganz im Gegenteil: Die spröde Geschichte entwickelt einen ausgesprochen „magischen“ Bann, dem man sich nicht entziehen will, wenn man ihm erst einmal erlegen ist. Dabei geht es in einzelnen Szenen bisweilen sogar theatralisch zu, weil die Figuren entweder schweigen oder in wortreiche, manchmal recht gedrechselte Monologe verfallen, die von den Darstellern großes sprachliches Geschick erfordern. Da Angela Schanelec aber auch darin eine Meisterschaft entfaltet, den filmischen Raum zu erweitern, indem sie die Figuren häufig aus dem Bild fallen, außerhalb des Blickfeldes agieren oder in Spiegelungen präsent sein lässt, gewinnt ihre Inszenierung eine auch formal bezwingende Qualität, die den Film spannend – und einzigartig – macht. Bereits auf der Ebene der Figuren gelingt eine frappierende Beschreibung deutschen Großstadtlebens um die Jahrtausendwende, das von einer Spezies dominiert wird, die mit Begriffen des Bürgertums nur noch unzureichend beschrieben wären: die so häufig aufgespießte Saturiertheit ist einer latenten Unruhe gewichen; jeder ist tendenziell auf dem Sprung, ständig unterwegs, zum Aufbruch bereit – und sei es nur in die Ferien. Ein nomadischer Zug kennzeichnet dieses urbane Dasein, ein Anflug von Unbehaustheit, der sich bis in die Physiognomien fortschreibt, während die nächste Generation offensichtlich wieder die Sitten der Großväter adaptiert und schon mit 21 Jahren vors Standesamt zieht. Es gibt wenig Kinder, denen allerdings viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, vornehmlich in Form von Zeit. Diese Dimension, in den Dialogen oft thematisiert, rührt an eine tiefere Ebene, auf der der Film sich ästhetisch an philosophische Themen wagt. Es ist nicht erst der Tod, die schmerzhafte Erfahrung des Verschwindens, der eine radikale Vergänglichkeit ins Bewusstsein hebt; dass es um „Zeit“ und die vielen Formen des Umgang mit ihr geht, war schon vorher durch die filmische Organisation der Bilder und ihres eigenwilligen Rhythmus deutlich geworden. Durch den tableauhaften Aufbau vieler Einstellungen entsteht eine eigenartige Spannung zwischen der kontemplativen Präsenz des zumeist stehenden Bildes und dem verbalen Ausgriff der Figuren, verstärkt durch die diskontinuierliche Zeitsprünge der jeweiligen Episoden, deren „Zeit“ durch die Licht- und Naturverhältnisse atmosphärisch deutlich akzentuiert ist. Auch wahren die Figuren bei aller Mitteilsamkeit eine grundsätzliche Distanz, weil jede Psychologisierung sorgfältig vermieden wird, was eine radikale Unvermittelheit zur Folge hat, die sie in keine Denk- oder Begriffs- und schon gar nicht in eine der üblichen Kinoschablonen zwängt. Zusammen mit der Erweiterung des filmischen Raums verdichtet sich das zum Eindruck eines grundsätzlichen „Außerhalbs“, das man terminologisch mit Musil als „Möglichkeitssinn“ oder mit Bloch als „Utopie“ beschreiben könnte, hier aber eine sinnlich wahrnehmbare, wenn auch filigrane Gestalt gewinnt. Die Zeit fließt und ist, Menschen sind und werden, Sophie lebt für ein halbes Jahr im Ausland, während der Sommer vorbei zieht; was bleibt, ist „Mein langsames Leben“ mit seiner eigenartigen Spannung zwischen den Erwartungen und dem, was Geschichte geworden ist.
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