Die Nacht, als Laurier erwachte

Drama | Kanada/Frankreich 2022 | 293 (fünf Folgen) Minuten

Regie: Xavier Dolan

Der nahende Tod der Mutter führt vier entfremdete bis verfeindete Geschwister wider Willen enger zusammen. Dabei kommen lange verdrängte Tragödien aus der Vergangenheit an die Oberfläche und brechen sich in einem Strudel aus Paranoia Bahn. Eine formal und inhaltlich brillante Miniserie über eine komplexe, sich aus vielen Andeutungen und noch mehr Verwirrungen herauskristallisierende Familientragödie. Virtuos spielt die Inszenierung mit einer außergewöhnlichen Filmmusik und in die Irre leitenden Genre-Versatzstücken. Daraus entsteht ein über Jahrzehnte wucherndes morbides Sittenbild latenter Homophobie in einer konservativen Gesellschaft. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA NUIT OÙ LAURIER GAUDREAULT S’EST RÉVEILLÉ
Produktionsland
Kanada/Frankreich
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Canal+/Productions Nanoby/Québecor Contenu
Regie
Xavier Dolan
Buch
Xavier Dolan
Kamera
André Turpin
Musik
David Fleming · Hans Zimmer
Schnitt
Xavier Dolan
Darsteller
Julie LeBreton (Mireille Larouche) · Patrick Hivon (Julien Larouche) · Éric Bruneau (Denis Larouche) · Xavier Dolan (Elliot Larouche) · Magalie Lépine Blondeau (Chantal Gladu)
Länge
293 (fünf Folgen) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung | Serie | Thriller
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IMDb

Eine komplexe Miniserie um vier entfremdete bis verfeindete Geschwister, zwischen denen jahrzehntelang verborgene Familientragödien auf den Tisch kommen.

Diskussion

Was für eine Musik! Ein wenig fühlt man sich an die Vorspannklänge von Bernard Herrmann zu „Psycho“ erinnert. Zwar hört man keine kreischenden Streichinstrumente, doch die quälende Spannung ist durchaus ähnlich. Mit jeder Note peitschen die Akzente und pochen die Sforzati. Schon in den ersten eineinhalb Minuten kommt die Zuhörer:innen emotional tüchtig ins Schwitzen. Es ist ein mitreißendes Entree, das eindeutig auf einen Thriller verweist. Hans Zimmer und David Fleming, die schon bei der BBC-Naturserie „Der blaue Planet“ (2017) und zuletzt „Dune“ (2021) zusammengearbeitet haben, leisten ganze Arbeit. Im Vorspann, zu dem diese Musik konzipiert ist, verbinden sich Bildfetzen von Fotos, Zeitungsausschnitten und den Händen eines Unbekannten, der mit Schere und Textmarker Hand anlegt, zu einer Collage des Grauens. Voller Andeutungen, ominöser Beweisführungen und potenzieller Gefahren.

Wer ist Laurier?

Doch eigentlich geht es „nur“ um ein (zugegeben mitunter sehr tragisches) packendes, nicht selten auch ätzend-quälendes Familiendrama, in dem die vielen Leichen im Keller der Protagonisten eher metaphorischer als physischer Natur sind. „Die Nacht, als Laurier erwachte“ heißt die fünfteilige Miniserie, mit der das frankokanadische Regie-Enfant terrible Xavier Dolan („I Killed My Mother“) seinen Einstand als Serienschöpfer gibt. Wer der mysteriöse Laurier ist, dem die fünfteilige Miniserie ihren Titel verdankt, werden die Zuschauer lange nicht erfahren. Zu der im Zentrum der Handlung platzierten Familie Larouche gehört er zumindest nicht. In den 1980er- und frühen 1990er-Jahren ist er (für manche) eine Art Eindringling; ein Sportsfreund und Kumpel von Julien Larouche (Patrick Hivon), dem ältesten Sohn. Später bewirken die Ereignisse, dass er zur Persona non grata wird.

Doch bis all das klar wird, vergeht eine gefühlte Ewigkeit. Zunächst lebt die Serie von puren Andeutungen, von Kolportage, von Puzzleteilen, die einfach nicht zusammenpassen wollen. Da ist vor allem noch ein mysteriöser Prolog des ersten Teils, vor dem besagten Vorspann: Eine alte Frau sitzt im Halbdunkel ihrer Wohnung, möglicherweise mitten in der Nacht. Die Einblendung verortet sie in einen Vorort im kanadischen Quebec, 2019. Von Geräuschen irgendwo draußen aufgewühlt, blickt sie, von Gardinen nur unzureichend versteckt, auf die Straße. Ein Wagen fährt an und offenbart ihr einen verletzten und an einen Flaggenmast gefesselten jungen Mann. Der Täter sieht sie, zeigt auf sie, und die Regenbogenflagge am Mast beginnt zu brennen.

Springen ohne viel Federlesen

Dolan, der auch das Drehbuch – sehr frei – nach dem gleichnamigen Theaterstück von Michel Marc Bouchard verfasste, mutet seinem Publikum eine Menge zu. Und das sind nicht nur die Andeutungen und die unübersichtlichen Figurenkonstellationen, es ist auch das Hin- und Herspringen zwischen Zeiten und Orten, von hier nach da, von einst zu jetzt. Doch es lohnt sich, trotz aller Verwirrungen Dolans Erzählung zu folgen und nicht krampfhaft alles verstehen zu wollen. Oder zumindest nicht sofort. Es dauert, bis sich all das Monströse findet, was die Familie Larouche fast zerstört.

Und schon wieder eine Andeutung im Jahr 2019: Da finden Bauarbeiter auf dem Grundstück der Larouches eine angerostete Metalldose. Über einen Meter tief lag sie fast dreißig Jahre im Erdreich. Der Arbeiter, ein Freund der Familie, gibt sie Denis (Éric Bruneau), dem mittleren der Brüder, der gerade bei seiner sterbenden Mutter nach dem Rechten schaut. Ihm gehört sie anscheinend nicht. Mehr wissen könnten Julien oder der jüngste Bruder Elliot (Xavier Dolan), der gerade eine Entziehungskur macht, oder gar Mireille, genannt „Mimi“ (Julie LeBreton), die Schwester, die längst das Weite gesucht und als Einbalsamiererin im Bestattungswesen landesweit Karriere gemacht hat. Um herauszufinden, was in der Kiste ist und was das zu bedeuten hat, muss man der Serie jedenfalls Zeit geben. Bis zum letzten Teil.

Ein bedrohlicher Sturm zieht auf

Klar ist nur eines: Die Geschwister haben sich auseinandergelebt. Mireille gilt als die böse Schwester, die Abtrünnige, doch zu trauen ist dieser Sichtweise nicht. Sie und Julien hassen sich ob all dessen, was „damals“ geschehen ist – wegen Laurier. Julien ist inzwischen mit Chantal (Magalie Lépine-Blondeau) verheiratet und hat mit Marie-Soleil (Rosalie Loiselle) eine Tochter knapp jenseits der Pubertät. All die Protagonisten werden am Morgen nach dem mysteriösen Vorfall am Fahnenmast des Rathauses eingeführt. Die Filmmusik ahmt hier kurz und bewusst ein wenig die ikonischen Klänge von Thomas Newman aus „American Beauty“ nach. Ein Idyll mit tiefen Brüchen. Genial, für die, die Musik dekodieren können. Aber auch alle anderen merken, dass ein bedrohlicher Sturm aufzieht – und Mireille kommt nach Hause.

Xavier Dolan und sein grandioses Darstellerensemble weben auf zwei Zeitebenen das Gespinst einer morbiden heilen Welt, um es dann zu zerreißen. Dabei spielt Dolan mit den Genres, indem er der Realität mysteriöse Traumwelten mit vom Dach stürzenden Frauen und gesichtslosen Männern in schwarzen Hoodies hinzudichtet. Doch „Die Nacht, als Laurier erwachte“ wird nicht zum Horrorszenario. Die „Home Invasion“-Bedrohung hat hier nichts von Filmen wie „The Purge“ oder „The Strangers“. Es ist viel schlimmer, denn die Eindringlinge sind längst in den Köpfen der Familie.

Man möchte alle in den Arm nehmen

Würde man nur die Musik hören, müsste man an Mord, Totschlag und Geister glauben. Sieht man die Serie dazu, traut man den Vätern und Müttern, Brüdern, Schwestern, Ehemännern und Ehefrauen der Familie Larouche (samt Laurier) alles zu, was die Musik verspricht, vergießt aber – zum Ende – auch eine Menge Tränen, wenn sich alles fügt und die Wahrheit ans Licht gekommen ist. Man möchte einfach alle in den Arm nehmen und trösten, wohl wissend, dass es nichts ändern kann.

Denn es geht um falsche Geschwisterliebe, die in Hass umschlägt, es geht um Lügen, die mit den Jahren wahr werden, es geht um tradierte, tief verwurzelte Homophobie, verpasste Selbstfindung, verdrängte oder gar verleugnete (sexuelle) Identität. Es geht um die Last des demonstrativen Familienidylls und die unsägliche Qual, wenn man dieses Idyll vermisst. Und es geht um den Prolog des ersten Teils, der sagt: Nichts hat sich gebessert. Trotz alledem!

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