Spuren von Bewegung vor dem Eis

Experimentalfilm | Deutschland 2024 | 89 Minuten

Regie: René Frölke

Das experimentelle Filmessay nähert sich den eingelagerten Restauflagen des Züricher Pendo Verlags und dem Nachlass seiner Gründer an. Szenen der Begegnung mit der Tochter der Verlagsgründerin stellt er in grobkörnigen Super-8-Bildern neben fragmentarische Tonband-, Schrift- und Bildfunde. Die mal unruhig rhythmisierte, mal meditative Montage bringt die schiere Unmenge an Archivmaterial in eine zufällige wie zwingende Ordnung. Statt einer dokumentierenden und erzählenden Rekonstruktion von Lebens- und Verlagsgeschichten gelingt vielmehr die Sicht- und Hörbarmachung einer produktiven Kapitulation vor einer vom Zeitgeist unbeachteten Fülle. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2024
Produktionsfirma
Joon Film
Regie
René Frölke
Buch
René Frölke · Ann Carolin Renninger
Kamera
René Frölke
Musik
Tessa Weigner
Schnitt
René Frölke
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Experimentalfilm | Filmessay
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IMDb

Dokumentarisches Filmessay über den Nachlass der Gründer des Schweizer Pendo Verlags.

Diskussion

In seinem Film „Führung“ (2011) heftete sich René Frölke, damals noch Student an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe (HfG), an die Fersen des damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler. Der ließ sich samt Gefolge vom damaligen Rektor der HfG, Peter Sloterdijk, durch Räume und Gedankengänge führen. Nicht immer hört man in „Führung“, was gesprochen wird, doch diese Lücken gehören dazu. Frölke inszenierte diese subtil endzeitlich unterlegte „Guided Tour“ als Fragment einer kollektiven Sinnsuche, bei der dem „analogen Filmhandwerk“ eine Schlüsselrolle zukommt, wie es an der HfG gelehrt wird. Denn, so sagt es Sloterdijk im Film, „wir brauchen auch Medien zur Wiedergewinnung der Wirklichkeit“.

War sie denn jemals weg, die Wirklichkeit? Oder ist sie je ohne Lücken zu haben? Frölke, der bereits 2008 mit Thomas Heise an dessen Film „Material“ zusammengearbeitet hat, brach 2012 sein Studium ab und entwickelte einen eigenen Zugang zu etwas, das man die filmische Sichtbarmachung der Materialität von Zeit nennen könnte. Sei es das auf analogem Material gedrehte, meditative Langzeitporträt eines alten Bauern in „Aus einem Jahr der Nichtereignisse“ (2017; zusammen mit Ann Carolin Renninger), das weniger den Stillstand beschwört, als das Vergehen der Zeit in allerlei unspektakulären Wiederholungen von Tätigkeiten, Geräuschen und Stillleben einfasst und ins Fließen bringt. Oder sei es jetzt, mit „Spuren von Bewegung vor dem Eis“, das filmische Hindurchgraben durch die Hinterlassenschaften des Schweizer Pendo Verlags.

Etwas Uferloses

Der 1971 von der Journalistin Gladys Weigner und dem Fotografen Bernhard Moosbrugger in Zürich gegründete Verlag existiert als Name zwar noch heute, nach mehreren Übernahmen aber unter dem Dach des Piper Verlags. Frölke hatte es ursprünglich nur auf ein paar vergriffene Bücher aus der frühen Phase der Verlagsgeschichte abgesehen, die in einem Keller in Zürich lagern sollten. Sie sind im grobkörnig schimmernden Halbdunkel zu sehen, sorgfältig gestapelt. Eines trägt den sprechenden Titel „Erinnerungskapsel“, als hätte es auf diesen Filmauftritt nur gewartet. Diese Kapsel hat Frölke nun geöffnet und Uferloses vorgefunden: „Es geht eigentlich um alle Verlage, die es gibt, jemals gab und jemals geben wird“, sagt er. Und findet eine gleichermaßen zufällig wie zwingend wirkende Form dafür.

Schwarzbild. Weißbild. Eine Frau mit dunkler Mähne und imposanter Nase am Klavier. Teetassen vor Bücherrücken. Bilder an Wänden. Ein Dachboden voller Kisten mit alten Stofftieren, ein Keller mit noch originalverpackten Büchern. Auf der Tonspur Klavierspiel von alten Tonbändern, Streitgespräche zu philosophischen Themen. Dann wieder: Handschriften, datiert vom Semester 1943/44, es geht um die Wahrheit, das Sein, Gott, den Menschen. Plötzlich wieder Gegenwart, die wie Erinnerung aussieht: Ein Hund spielt auf einem Sofa. Die Super-8-Kamera tastet ein buntes Kirchenfenster ab. In dem kleinen Gotteshaus findet die Trauerfeier für Gladys Weigner statt. Der Hund ihrer Tochter Tessa streift wedelnd zwischen den Kirchenbänken umher.

Alles wird Text wird Bild wird Text

In „Spuren von Bewegung vor dem Eis“ treibt der Regisseur die formalen Mittel seiner früheren Filme auf die Spitze. Es gibt Schwarzbilder mit Ton, Super-8-Sequenzen ohne Ton. Wie er es auch zuvor schon tat, transkribiert Frölke alles, was im Film gesprochen wird. Auf diese Weise sei ein Buch entstanden, sagt er, „und mit ihm der Gedanke: Das ist jetzt auch ein Buch, das verschwinden wird, das kein Mensch braucht, das vollkommen sinnlos ist“. Man sieht Seitenausschnitte dieser Transkription. Alles wird Text wird Bild wird Text. Sogar die Unterstreichungen der Handschriften kopiert Frölke, befreit sie dabei aber von dem, was sie einst hervorheben wollten. Sie werden zu grafischen Zeichen, zu Spuren ohne Sinn.

Tessa Weigner, Tochter der Verlagsgründerin, kommt bei diesem essayistischen Experimentalfilm die Rolle einer Anti-Ariadne zu. Wenn hier jemand etwas über den Verlag und seine Geschichte wissen muss, dann sie. Frölke beobachtet und befragt sie, während sie sich durch den privaten wie beruflichen Nachlass ihrer Eltern hindurcharbeitet. Doch der Film lässt sich gleichermaßen auf unkommentierte Tonaufnahmen, Bilder und Stapel von Heften ein. In Tessas Wohnung herrscht gemütliches Chaos. Sie isst, sie telefoniert, sie lässt den Ball, den der die Tätigkeiten der Menschen hinnehmende Hund ihr hartnäckig zuspielt, auch mal liegen.

Erinnerungspartikel aufklauben

Kann man sich dem Nachlass von Künstler-Eltern und den Bällen, die er einem dauernd vor die Füße legt, verweigern? Einmal spricht die Wucht des Versäumnisses aus Tessa: Nie habe sie die Zeit gefunden, mit ihrer Mutter all die Kisten durchzusehen. Sonst aber erklären ihre im monotonen Schweizer Singsang geäußerten Sätze und Satzfragmente kaum etwas; sie liefern keine Anekdoten aus dem Leben, es gibt Sprachklang und das Aufklauben von Erinnerungspartikeln. Ob sie sich jemals zu einem sinnvollen Ganzen fügen?

Statt einer dokumentierenden und einordnenden Rekonstruktion der Verlagsgeschichte ist „Spuren von Bewegung vor Eis“ die Sicht- und Hörbarmachung einer produktiven Kapitulation: vor dem Versuch, etwas zu retten, was vom Zeitgeist nicht beachtet wird. Obwohl kein „Klaglied“ im Schillerschen Sinn, geht hier etwas nicht „klanglos zum Orkus hinab“. Aus der Anerkenntnis des in seiner puren Menge Überfordernden speist sich eine Melancholie, die sich selbst genügt und gleichzeitig in einer potenziell unendlichen Bewegung nie mit sich selbst fertig wird.

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