Maries Lied "Ich war, ich weiß nicht wo"

Drama | Deutschland 1995 | 90 Minuten

Regie: Niko Brücher

Die Tochter einer preußischen Landgräfin zu Zeiten der Befreiungskriege gegen Napoleon durchlebt während einer Sommerwoche die schmerzhafte Wandlung vom Mädchen zur Frau. Ein poetisches, traumnahes Kinodebüt mit starkem Formwillen, das durch nuancierte Lichtführung innere Räume und Atmosphären schafft, durch die sich eine historische Epoche ins Bewußtsein hebt. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Palladio Film/WDR/SWF/arte
Regie
Niko Brücher
Buch
Niko Brücher · Kirstin von Glasgow
Kamera
Jolanta Dylewska
Musik
Andreas Schilling
Schnitt
Wanda Zeman
Darsteller
Sylvie Testud (Marie) · Bastian Trost (Auguste) · Veronica Quilligan (Fräulein Bettina) · Martin Feifel (Friedrich) · Carola Regnier (Gräfin von Kuttnow)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Irgendwo m den ländlichen Weiten Preußens während der Sommermonate des Jahres 1813. Noch sind Napoleons Truppen nicht endgültig geschlagen, die staatliche Ordnung nicht wiederhergestellt. Unsicherheit und Anarchie hängen wie schwere Regenwolken über dem Horizont, an dem immer wieder versprengte Haufen zerlumpter Soldaten, Flüchtlinge oder Bettler auftauchen, die unbestimmten Zielen entgegenziehen. Nur auf dem Landschloß der Gräfin von Kuttnow scheint man von den rauhen Zeitläufen wenig Notiz zu nehmen. Zwar hat das Anwesen schon bessere Tage gesehen; auch deutet das. Fehlen von Pferden und Männern auf Krieg und Ausnahmezustand hin. Doch der Blick der Schloßherrin weilt in Ferneren Tagen. Auf der Spur des Archimedes sucht sie, selbstvergessend und in sich versunken, dessen Kriegstechnik zu rekonstrurieren: mit Hilfe von gebündelten Lichtstrahlen feindliche Schiffstakelagen in Brand zu setzen. Ihrer Tochter Marie, die einsam und gelangweilt auf Rollschuhen durch die kargen, leergeräumten Gemächer rumpelt, ist zum Reich der Mutter ebenso der Zutritt verwehrt wie zu den Räumen ihrer Gouvernante Bettina, einer strengen, herrischen Frau, die Erbauung in Gebet und religiöser Übung sucht. Erst als Herr Tümmler mit seinem verträumten Neffen Auguste auftaucht - mit neuen Spiegeln für die Gräfin im Gepäck -, erwachen Schloß und Bewohner aus ihrem Dämmerzustand. Zwischen der 10jährigen Marie und dem schüchternen Auguste entspinnen sich erste zarte Liebesbande, zwischen dem Besucher und der Gouvernante wandern begehrliche Blicke hin und her, wird die aufflackernde Leidenschaft mühsam gezügelt. Doch diese sommerlich-idyllischen Annäherungen der Geschlechter werden empfindlich gestört durch eine Gruppe von Kriegsfluchtlingen, die im Schloß vor einem Unwetter Unterschlupf suchen. Unter ihnen befindet sich auch Friedrich, ein verwegener, abgebrühter Charmeur, dessen sinnlich-dominanter Ausstrahlung bald sowohl die Gouvernante als auch Marie erliegen. Während eines Abendfestes, das die Gräfin zu Ehren ihrer Gäste gibt, ist es für Friedrich ein Leichtes, die neuen Liebesgefühle Maries zu verwirren, indem er sie in die Erotik des Tanzes einführt. Und um Fräulein Bettinas Zurückhaltung ist es geschehen, als tags darauf nach einem kräftigen Gelage die Gäste zu rebellieren beginnen, das Haus plündern und ihren aufgestauten Aggressionen und Trieben mehr oder minder freien Lauf lassen. Maries Mutter stürzt beim Versuch, dem Pöbel Einhalt zu gebieten, zu Tode, Marie wird von Friedrich vergewaltigt und Herr Tümmler läuft zu den Aufständischen über. Während die Plünderer ihren Sieg mit einem Bad im nahen Weiher feiern, organisiert Marie die Gegenwehr. Gemeinsam mit den anderen Kindern des Gutes gelingt ihr spielend, wonach die Gräfin vergeblich forschte: Sonnenstrahlen mittels Spiegeln als Waffe zu benutzen.

Dies alles erzählt Nico Brücher in seinem ersten langen Spielfilm fast ohne Worte, mit minimalen filmischen Mitteln, aber einem ungeheuren Formwillen, der herkömmliche Filmsets permanent in kunstvolle Tableaus verwandelt. Dem direkt und unspektakulär geschilderten Verlauf der Handlung entspricht eine Erzähltechnik, die durch extreme Nahaufnahmen und Zeitluperverzögerungen eine beobachtende, fast trancehafte Wahrnehmung von Gefühlen und Empfindungen der Handelnden forciert. Mehr noch als die erlesenen Stoffe und die wenigen, historisch präzisen Ausstattungsgegenstände ist es dabei die nuancierte Lichtgestaltung, mit der der Regisseur und seine polnische Kamerafrau (die dafür mit dem Bundesfilmpreis ausgezeichnet wurde) innere Räume und Atmosphären erschaffen, in denen sich Maries schmerzhafte Verwandlung vom Mädchen zur Frau vollzieht. Diffuses Sonnenlicht taucht Flure und Hallen des Landschlosses in elegische Lethargie, der weite, bis auf eine Szene stets bedeckte Himmel vermittelt ein -Großstädtern fremdes - Gefühl des Ausgesetztseins und der Vereinzelung, und der vielschichtige Wechsel zwischen Außen/Innen und Tag/Nacht schafft ein Kontinuum, das vor allen Einzelthemen und -strängen eine vergangene Epoche beschwört. Vieles erschließt sich in diesem traumwandlerisch sicheren Film, ohne explizit thematisiert zu sein: der Verhaltenskodex einer Zeit, in der Emotionen auch noch im Exzeß einer Form von Etikette gehorchten; die Wandlungsfähigkeit von Menschen, sei es durch Gewalt oder durch Zuneigung; die distanziert-kontrollierten Beziehungen seiner Protagonisten und ihre möglichen psychischen Wurzeln.

Was Brüchers Bilder-Film so sehenswert macht, ist über seine ästhetische Kraft hinaus der Verasch, sich auf die faktische emotionale, geistige, moralische, ja sogar physiognomische Verfaßtheit einer Zeit einzulassen. Brüchers Historizität ist dabei weniger an exemplarischer oder repräsentativer Durchdringung der europäischen Befreiungskriege orientiert als vielmehr an einer plausiblen Rekonstruktion alltäglich-existentiellen Daseins. Sprachduktus, Expressivität und die wenigen inhaltlichen Bemerkungen sind zeitgenössischen Quellen angepaßt, Beethovens Kammermusik erklingt in reduzierter Besetzung, und selbst ein zeitlich später anzusiedelndes Spitzweg-Zitat paßt sich inhaltlich so ein, daß sein karrikierender Charakter nicht den Rahmen sprengt. Daß aus der im Kern moralischen Fabel keine sozial- oder kulturgeschichtliche Studie wurde, ist Brüchers poetischer Filmsprache zu verdanken, die im Wechselspiel von exzellenter Schauspielerführung und einer gelassenen Erzählperspektive dem Zuschauer viel Raum für die eigene Beobachtung und Schlußfolgerang einräumt. Mit zu den bewegendsten Elementen dieses in fünf Jahren gereiften Kinodebüts zählt die außergewöhnlich sorgfältige Auswahl der Darstellerriege: Gesichter, die auf den ersten Blick nicht als "schön" erscheinen, wohl auch nie in Illustrierten auftauchen werden, deren Lebendigkeit und stille Würde sich aber während neunzig Filmminuten so nahebringen, daß gängige Kategorisierangen nicht mehr greifen.
Kommentar verfassen

Kommentieren