Passionen: Die Rätselspiele des David Lynch

Eine Liebeserklärung an David Lynch und seine Vorstellungen vom Kino als Irrgarten

Veröffentlicht am
31. Dezember 2019
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Von „Eraserhead“ (1977) bis zu „Inland Empire“ (2006) haben sich ganze Dechiffriersyndikate an den schwer durchschaubaren Filmen des US-amerikanischen Regisseurs David Lynch abgearbeitet. Der Filmkritiker Josef Schnelle reiht sich mit seiner Liebeserklärung an Lynchs Vorstellungen vom Kino als einem Irrgarten in die Reihe der kundigen Verehrer mit ein.


David Lynch und seine Filme sind ein bleibendes Rätsel. Das begann 1977 mit „Eraserhead“ und einem bizarren Monsterbaby, das nicht zu schreien aufhörte und dem Film eine kultische Aufladung sicherte. 1980 webte Lynch um den missgebildeten „Elefantenmenschen“ die düstere Nebel-Kulisse des viktorianischen Englands. Und „Blue Velvet“ (1986) hob nicht nur mit einer spektakulären Fahrt in die Unterwelt des grünen US-Vorstadtrasens an, sondern wuchs sich zu einem sadomasochistischen Thriller aus.

In den 1990er-Jahren bildete sich um die Fernsehserie „Twin Peaks“ mit ihrem Mordopfer Laura Palmer ein regelrechtes Dechiffriersyndikat, das alle Geheimnisse der verzwickten Geschichte aufklären wollte. Vieles blieb natürlich offen.

Bei der Verleihung des „Oscar“-Ehrenpreises „Gouverneurs Award“ vor wenigen Wochen erinnerte Isabella Rosselini in ihrer Laudatio an das Casting für den stilbildenden Film „Blue Velvet“, den sie 1986 geprägt hat, und schloss mit der Aufforderung: „Sucht nicht nach direkten Antworten und einfachen Emotionen in seinen Filmen. Seine Muse ist das Mysteriöse.“ Lynch selbst schaute mit versonnenem Blick auf die „Oscar“-Statuette, mit der er für sein Lebenswerk geehrt wurde, nachdem er trotz zahlreicher Nominierungen den Preis nie regulär gewonnen hatte, und sprach vieldeutig an den stilisierten Ritter in seiner linken Hand gewendet: „You have an interesting face“.


Das Kino nicht den Geschichtenerzählern überlassen

Seit „Inland Empire“ (2006) dreht David Lynch keine Kinofilme mehr. Er profiliert sich eher als bildender Künstler, etwa mit einer großen Ausstellung in Maastricht 2018. Auch darin erweist er sich als der einsame Großmeister eines expressiven surrealistischen Kunstkonzepts, dessen geheimnisvoll-schaurigen Filme dem zeitgenössischen Kino als einzigartige Inspirationsquelle nun fehlen.

Die Welt des Kinos gehört gemeinhin den Geschichtenerzählern: Exposition – Konflikt – Krise – Lösung, vielleicht sogar ein Happy End. Dann schnell raus aus dem Saal, ehe der Kopf platzt. Doch das Kino ist ein viel zu reiches Medium, um es den Geschichtenerzählern zu überlassen. Denn Kino ist Traum. Es darf auch unlogisch und verwirrend sein: Ein Erlebnis, nach dem man die wirkliche Lebenswelt nur mit zögernden Schritten wieder betritt.

Durch die Filme von David Lynch ist sie einem fremd geworden. So konnte man „Mulholland Drive“ (2001) nur folgen, wenn man sich den überraschenden Windungen der prominenten Straße in den Hügeln über Hollywood wie auch Lynchs Konstruktion aus Parallel- und Alternativgeschichten mit wachem Hirn und großer Lust an Bilder- und Gedankenungetümen hingab. Noch immer ist das Dechiffriersyndikat bei der Entschlüsselung dieses filmischen Pendants zu James Joyce „Ulisses“ nicht endgültig fündig geworden.

Anschließend legte David Lynch ein noch unzugänglicheres Werk vor. Bei „Inland Empire“ (2006) empfiehlt es sich, loszulassen und die filmischen Rätsel rätselhaft zu erleben und ungeschützt in einen Traum einzutauchen - sich also für Lynchs wilde, assoziationsreich-nichtlineare Erzählweise zu öffnen.


Vom „Mulholland Drive“ zum „Inland Empire“

Jeder Albtraum beginnt mit einer einfachen Geschichte. Zwei Schauspieler proben eine Szene. Irgendwann ruft jemand „Schnitt“, und schon befindet man sich in einer anderen Welt. Ein Film im Film wird gedreht. Ein psychologischer Thriller mit einer Liebesgeschichte. Doch bald kommen Zweifel auf, was in diesem Kinotraum wahr und was ein bisschen wirklicher ist. Hasenköpfige Menschen bewegen sich durch ein Sitcom-Wohnzimmer. Völlig willkürlich schaltet sich ein Lachband ein. Wer hier schon anfängt, nach einem verborgenen Sinn zu suchen, ist verloren. Auch die von Laura Dern gespielte Hauptfigur Nikki weiß bald nicht mehr, ob sie sich noch in einer filmischen „Realität“ oder auf irgendeiner anderen Traumebene mit vielen Bedeutungen befindet.

Zeiten, Orte und Identitäten geraten immer mehr aus den Fugen. Und doch wirkt alles perfekt, so, als füge es sich in die scheinbare Logik einer Story. Traumlogik eben – nicht Freud, sondern Lacan lässt grüßen. Die Szenen des Films im Film wirken bald wie Blicke in die Zukunft der Figuren des Films, den man gerade sieht - oder vielleicht doch in ihre Vergangenheit? Oder tief in unsere Herzen?


Die Angst als Rückseite einer unkalkulierbaren Liebe

Lynchs Generalthema ist die Angst. Liebe ist ein unkalkulierbares Wagnis. Die Suche nach Glück ein schlechter Scherz. Und das Leben der wildeste aller Träume. „Inland Empire“ sollte ursprünglich der Pilotfilm einer Fernsehserie werden. Doch die Zeiten von „Twin Peaks“, als David Lynch das Fernsehen in eine mysteriöse Wunderwelt verwandeln wollte, sind längst vorbei. Geheimnisse müssen inzwischen stets aufgelöst werden. Am besten sofort.

„Inland Empire“ entstand mit Hilfe der französischen Produktionsfirma „Studio Canal“, fand in den USA aber kaum Zuschauer. Lynch begleitete seinen Film wie ein Baby durch die Provinz und sorgte sich schon damals um die Zukunft des Arthouse-Kinos: „Wer Kino nur noch als Geldmaschine definiert, schlägt die Tür für Innovationen zu. Ich bin sicher, dass irgendwann etwas Unerwartetes auftaucht und die Menschen dann darauf abfahren. Hollywood wird nur dann fortexistieren, wenn es auf den fahrenden Zug aufspringt.“

Nicht nur für diese Weisheit muss man David Lynch bewundern. Film ist eine viel zu reiches Medium, um auf die Lynchsche Variante verzichten zu können. Später wird man vielleicht einmal sagen, dass „Inland Empire“ eine neue Ära der Filmerzählung eingeleitet hat. Nach dem Kino ist vor dem Kino – vor dem im Kopf.


Die Welt als lustvoller Irrgarten

Als Maler und Komponist hat David Lynch inzwischen angefangen, mehr zu bieten als alle Virtuosen des Formelkinos: eine Welt als Irrgarten, die man lustvoll und voller Erwartung betreten kann, aus der es aber keinen einfachen Ausweg mehr gibt.



Foto oben: Szene aus "Inland Empire"; © Concorde

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