© Criterion Collection

Filmklassiker: "Judex"

Der französische Regisseur Georges Franju griff 1963 mit „Judex“ die Tradition der abenteuerlichen Stummfilmserials auf und machte daraus ein poesievolles Kunstwerk.

Veröffentlicht am
08. Mai 2023
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Der französische Regisseur Georges Franju griff 1963 mitJudexdie Tradition der abenteuerlichen Stummfilmserials auf. Sein traumhaft-schwebender Film über einen Magier und Verbrechensbekämpfer mit Hut und schwarzem Cape ist nicht nur stilsicheres und unterhaltsames Kino der Attraktionen, in die rasche Folge schauträchtiger Sequenzen fließen auch Poesie und Sozialkritik ein.


Es ist eine der schönsten Filmszenen der Kinogeschichte, untermalt von der nicht minder schönen dramatisch-romantischen Musik von Maurice Jarre, die zu meinen Lieblingssoundtracks zählt. Die Kamera folgt von unten nach oben der Silhouette eines Mannes im schwarzen Anzug. Als Maske trägt er einen großen Adlerkopf, der sein Gesicht und den Hinterkopf verbirgt. Für einen Moment hat man das Gefühl, als würde ein Gemälde von Max Ernst zum Leben erweckt. Der Unbekannte scheint die Zuschauer anzusehen, als wolle er einen Pakt mit ihnen schließen. Dann hebt er eine tote Taube von einer Balustrade auf und folgt langsam den anderen Gästen des Maskenballs, den der Bankier Favraux anlässlich der Verlobung seiner Tochter Jacqueline gibt, ins Innere einer schlossartigen Villa. Alle Gäste tragen Masken, manche bedecken nur die Augen und ähneln Vögeln mit ausgebreiteten Flügeln.

Gerade als Favraux eine Rede halten will, geht der mysteriöse Mann mit dem Vogelkopf auf ihn zu, immer noch begleitet von der anrührenden Musik. Währenddessen hat er der toten Taube neues Leben eingehaucht und lässt auch weitere Tauben aus dem Nichts erscheinen und über die Köpfe der Gäste hinwegfliegen. Einen Vogel platziert er geschickt auf der Schulter einer Frau, vermutlich von Jacqueline; denn auch ihr Gesicht ist unter einem großen Vogelkopf verborgen. Dann zaubert er aus einem Tuch ein Glas Champagner hervor und reicht es dem verdutzten Favraux, der kurz darauf – ohne daran genippt zu haben – leblos zu Boden fällt.


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Dem Magischen das Feld überlassen

Für die Ohnmacht des Bankiers gibt es keine plausible Erklärung: Der Film überlässt dem Magischen das Feld. Er etabliert eine irrationale Traumwelt, die der Illusionsmaschine des Kinos entspringt und darum faszinierender nicht sein könnte. Die Idee, dass die Titelfigur des Films ein Magier ist, kommt einem Geniestreich gleich. Da ist es fast selbstverständlich, dass der Magier auch von einem Magier gespielt wird: Channing Pollock. Dass dessen Schauspielkunst limitiert ist, fällt nicht ins Gewicht. Seine Ausdruckslosigkeit passt perfekt zu diesem Charakter, dessen Motive und Hintergründe für den Fortgang der Geschichte keine Rolle spielen. Der Zauber, der seinen Händen entspringt, reicht völlig aus.

Masken und magische Tricks gehören zur Figur von Judex dazu (© Criterion Collection)
Masken und magische Tricks gehören zur Figur von Judex dazu (© Criterion Collection)

Judex“, 1963 von Georges Franju inszeniert, ist ein Remake des gleichnamigen Stummfilmserials, das Louis Feuillade 1916 erfand, jener Regisseur, der zuvor die Fortsetzungsfilme „Fantomas“ (1913) und „Die Vampire“ (1915/16) gedreht hatte. Feuillades „Judex“ besteht aus zwölf Teilen und dauert über fünf Stunden – eine überbordende Geschichte von hinterhältigen Verbrechen, geheimer Rache und anschließender Auf- und Erlösung.

Franju hatte 1936 zusammen mit Henri Langlois und Jean Mitry die Cinémathèque Française gegründet. Zwei Jahre später sichtete er Feuillades Filme, um sie für die Retrospektive der Filmfestspiele von Venedig auszuwählen. Diese epischen Fantasien von Verbrechen und Verschwörung haben ihn nicht mehr losgelassen. Als der Produzent Robert de Nesle ihm anbot, „Judex“ zu verfilmen, schlug er sofort zu – nicht zuletzt, um zwischen dem Produzenten und dem Drehbuchautoren Jacques Champreux zu vermitteln. De Nesle war sich nicht bewusst gewesen, dass Champreux der Enkelsohn von Feuillade war, und traktierte ihn wie einen Untergebenen: Er möge doch mehr Treue zum Original wahren.

Franjus „Judex“ ist nicht nur ein verdichtetes Remake von Feuillades Serial – es gelingt ihm auch, den Spaß und die Aufregung des Vorbildes einzufangen. Dabei mischt er das Fantastische mit Sozialkritik. Und doch ist „Judex“ poetischer und unwirklicher, melancholischer und erotischer, gelegentlich auch komischer als Feuillades Werk; zudem kommt der langsamere Rhythmus hinzu, der „Judex“ etwas Traumhaft-Schwebendes verleiht. Ein Film, wie aus der Zeit gefallen. 1916 oder 1963 – das erscheint mit einem Mal gar nicht wichtig.


Ganz in Stummfilmtradition

„Judex“ beginnt, ganz in Stummfilmtradition, mit einer sich öffnenden Kreisblende und einem verzierten Zwischentitel. Im Mittelpunkt steht zunächst der herzlose Bankier Favraux (Michel Vitold), der seinen Reichtum durch Erpressung, Korruption und Mord angehäuft hat. In der allerersten Szene des Films weist er einen verarmten Bittsteller, für dessen Ruin er verantwortlich ist, erbarmungslos ab und überfährt ihn kurz darauf auf einem einsamen Feldweg mit dem Auto. Judex betäubt Favraux dann auf dem bereits beschriebenen Maskenball und hält ihn in einer verstecken Kammer fest. Über einen Monitor, der durchaus einem archaischen Fernsehgerät mit Art-Deco-Flair ähnelt, kann er ihn stets beobachten. Nur aus Liebe zu Favraux’ bezaubernde Tochter Jacqueline, dargestellt von Edith Scob, hat er den Bankier nicht getötet.

Spektakuläre Aktionen wie Fassadenkletterei sorgen für überwältigende Bilder (© Criterion Collection)
Spektakuläre Aktionen wie Fassadenkletterei sorgen für überwältigende Bilder (© Criterion Collection)

Allerdings haben es das Hausmädchen Diana Monti (Francine Bergé) und ihr Liebhaber Morales (Théo Sarapo) auch auf das Vermögen von Favraux abgesehen, zumal der Bankier der jungen Frau einen Heiratsantrag gemacht hatte, sie also eigentlich sein Vermögen hätte erben sollen. Nun verwandelt sich das ehemals unscheinbare Hausmädchen in eine aufregende, hocherotische, aber auch sehr gierige Übeltäterin, die zu jeder Gemeinheit fähig ist. Dabei nutzt sie unterschiedliche Verkleidungen und Maskeraden. Einmal trägt sie einen Männeranzug mit Schlips und Weste, was ihr eine sehr androgyne Ausstrahlung verleiht. Bei einem Einbruch ist sie nur mit einer Maske und einem hautengen Einteiler zu sehen, jenem schwarzen Catsuit, den auch Musidora als Irma Vep in Die Vampire (1915/1916) getragen hat. Die Kamera zoomt rasch zu ihrer linken Hüfte, an der als einziges Utensil ein kleines Stilett befestigt ist. Ein kurzer Blick in den Spiegel beweist ihre selbstbewusste Eitelkeit. Die Ambulanz, die Jacqueline retten soll, hält Diana Monti in der Verkleidung einer Nonne einige Zeit später mitten auf einer Landstraße auf. Doch dies ist nicht irgendeine Nonnentracht. Die Haube ist so groß und flügelartig nach vorne drapiert, dass man zwangsläufig an einen Vogel denken muss. Was zum Maskenball zurückführt.

Ihre Flucht führt Monti in eine Wassermühle. Sie öffnet eine Falltür im Boden, darunter strömt der reißende Fluss. Und sieht man von unten, auf Höhe der Falltür, wie sich Monti der Nonnentracht entledigt und darunter der Catsuit zum Vorschein kommt. Mit dem hauteng umschließenden Kostüm und der Aufsicht auf ihren Körper erscheint sie für einen Moment wie eine Domina, und dann ist sie auch schon im Wasser verschwunden. Francine Bergé ist in diesen Szenen zweifellos die attraktivste und interessanteste Figur des Films. Sie hat Judex den Rang abgelaufen. Er ist nicht mehr der Superheld und Racheengel mit großem Hut und schwarzem Cape, als den wir ihn zu Beginn kennen gelernt haben.


Nachts an der Gebäudefassade

Nun kommt es zu einer anderen unvergesslichen Szene: Judex klettert nachts an der Regenrinne eines Gebäudes hoch, um Favraux, der sich inzwischen befreien konnte, und Diana Monti dingfest zu machen. Doch kaum ist er im Innern angelangt, wird er von der bösen Frau einfach ausgeknockt und an einen Pfosten gefesselt – was ihr die Möglichkeit gibt, sich ihm endlich unziemlich zu nähern. In der Zwischenzeit klettern drei von Judex’ Gefolgsmännern im Dunkeln nicht die Regenrinne, sondern die Fassade des Gebäudes hoch, in dem der Held nun gefangen ist. Eine völlig sinnfreie Szene, weil kein Halt und keine Fenster zu entdecken sind und man nicht erschließen kann, wie die Männer Judex befreien könnten. Diese drei Männer in der Wand – das ist ein Bild, das nur für sich steht und gerade darum so überwältigend wirkt.

Dies sind Bilder der Action, der Attraktion. Doch Franjus Lieblingsszene ist eine andere, nämlich jene, in der Jacqueline nach dem vermeintlichen Tod ihres Vaters mit traurigem Gesicht durch die Flure der riesigen Villa läuft und dabei in jedes Zimmer schaut. Plötzlich wird sie sich ihrer Einsamkeit und Verlorenheit bewusst, sie muss das Erbe ihres verbrecherischen Vaters ablehnen. Unvergessen auch, wie Edith Scob, die 1960 in Franjus „Augen ohne Gesicht so eindrucksvoll war und hier zum vierten Mal für Franju vor der Kamera stand, rücklings und leblos auf einem Fluss treibt, in dem Monti und ihr Liebhaber sie ertränken wollten. Das schöne Gesicht von Edith Scob richtet das Augenmerk einmal mehr auf das Phantastische des Films, auf all das, was sich mit Logik nicht erklären lässt.

Nächtlicher Kampf Schwarz gegen Weiß auf dem Dach (© Criterion Collection)
Nächtlicher Kampf Schwarz gegen Weiß auf dem Dach (© Criterion Collection)


Der Zufall übernimmt

Danach überlässt Franju dem Zufall das Kommando, so wie es schon Feuillade getan hatte. Der Privatdetektiv Cocantin (Jacques Jouanneau), der auch zu Judex’ Rettung herbeigeeilt ist, zwischendurch in dem Buch „Fantomas“ (mit Nonnen auf dem Cover) nach Hinweisen sucht und als Assistenten einen kleinen Jungen engagiert hat, sieht auf der Straße einen Wanderzirkus vorbeifahren. Auf einem der Wagen entdeckt er eine alte Bekannte: Daisy (Sylva Koscina), eine Trapezkünstlerin. Sofort bietet sie sich an, die Hausfassade hochzuklettern, durch ein Fenster ins Gebäude einzudringen und Judex zu befreien. Später legt sie so ganz nebenbei Diana Monti in einem Zweikampf auf dem Dach das Handwerk.

Franju und sein Autor Jacques Champreux machen sich erst gar nicht die Mühe, diesen Zufall am Ende des Films zu erklären. Daisy kommt einfach vorbei, wie aus dem Nichts, ohne dass sie vorher eingeführt oder erwähnt worden wäre. Dabei löst sie Diana Monti kurzerhand als attraktivste Figur des Films ab. Im Duell auf dem Dach scheinen sich ihre Rollen zu verschränken. Licht gegen Schatten, Gut gegen Böse: Koscina trägt die weiße Strumpfhose ihres Trapez-Kostüms, Francine Bergé den schwarzen Catsuit, schwarze und weiße Beine umklammern einander. Noch so ein Bild, dessen Wirkung man sich nicht entziehen kann: die natürliche, spontane Anmut kämpft gegen die künstliche, hinterhältige Schönheit. Dieses Bild erklärt gleichzeitig, was die Surrealisten einen „nötigen Zufall“ genannt haben. Der Zirkus musste einfach vorbeikommen, damit Daisy und Diana ihr nächtliches Ballett aufführen können. Und der Zuschauer zwei schöne, aufregende Frauen in Aktion sieht.

Die Geschichte ist zu Ende, die Heldin ist gerettet, die Liebenden flanieren an einem nebligen Strand. Dabei trägt Edith Scob eine Matrosenjacke mit weißem Faltenrock und Mütze und sieht einfach bezaubernd aus. Ein Happy End wie aus einem altmodischen Film, und doch von großer emotionaler Kraft. Und dann blendet der Film einen verzierten Zwischentitel ein, als stamme er aus dem alten Original: „In Hommage an Louis Feuillade, in Erinnerung an eine Zeit, die nicht glücklich war: 1914.“ Alles, was wir in den 90 Minuten zuvor gesehen haben, erscheint angesichts des schicksalsträchtigen Jahres in einem anderen Licht. Das traumhafte Vergnügen macht schmerzhafter Trauer Platz.


Hinweis

Judex ist bei Masters of Cinema (Eureka) und der Criterion Collection in vorbildlichen Editionen mit ausführlichen Booklets erschienen.

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