© imago/Florian Gaertner (Außenministerin Baerbock in Netivot)

Leders Journal (XXII): Bilder des Terrors

Leders Journal (XXII): Eine Analyse der Bilder in deutschen Fernsehsendern über den von der Hamas verübten Pogrom im Süden von Israel

Veröffentlicht am
01. November 2023
Diskussion

Wie kann man entsetzliches Leid und abscheuliche Gräuel mit dokumentarischen Mitteln zeigen, die die Dimensionen des Geschehens greifbar machen, ohne die Würde der Opfer mit Füßen zu treten oder darüber sogar zu Handlangern der Täter zu werden? Eine Analyse der Bilder, mit denen deutsche Fernsehsender über den von der Hamas begangenen Pogrom in Israel berichteten.


Am Freitag, den 13. Oktober 2023, lief in der „Tagesschau“ um 20.00 Uhr kurz nach Beginn ein kurzer, 96 Sekunden dauernder Bericht vom Besuch der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) in Israel. Der Ort, an dem sie sich an diesem Tag befand, wird im Bericht nicht benannt. Der zuvor ausgestrahlten „heute“-Sendung des ZDF um 19.00 Uhr konnte man entnehmen, dass es sich um Netivot handelte, also um einen Ort im Süden Israels nahe des palästinensischen Gaza-Streifens. Von dort hatte die islamistische Hamas sechs Tage zuvor ihren terroristischen Angriff auf Israel gestartet. Zunächst mit heftigem Raketenbeschuss, dann mit kleinen mobilen Einheiten, die auf israelisches Gebiet vorrückten und dort ein Massaker anrichteten, das am Ende mehr als 1400 Menschen das Leben kostete. Zudem wurden über 200 Menschen, darunter viele Kinder, Frauen und ältere Menschen als Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt.


Die Bilder sind unscharf gestellt

Baerbocks Besuch in Netivot gilt der Solidarität mit dem angegriffenen Land und seinen Menschen. Was sie an diesem Tag dort sagt, wird in fast allen Nachrichtensendungen ausschnittsweise gezeigt. Die „Tagesschau“ zeigt etwas mehr. In ihrem kurzen Bericht ist ein enger Raum zu erkennen, in dem viele Menschen, unter ihnen die Außenministerin, Platz gefunden haben. An der Längswand ist ein großes Videodisplay angebracht. Der Blick darauf ist auf der linken Seite durch einen Kameramann verstellt, der ebenfalls filmt, was auf dem Display zu sehen ist. Vor dem Display steht ein Schreibtisch mit mehreren Computermonitoren und einer kleinen Israel-Flagge. An ihm sitzen zwei Männer mit Sicherheitswesten. Auf dem Display werden rasch hintereinander Fotos und kurze Videoszenen eingespielt, die nach dem Angriff vermutlich von israelischen Sicherheitsorganen aufgenommen wurden. Diese Fotos sind dergestalt bearbeitet, dass immer wieder mal Teile unscharf gestellt sind.

Hintereinander ist nun zu sehen: ein weißes Auto, dessen rechte Tür offensteht, sodass man erkennen kann, dass der Fahrer tödlich getroffen im Sicherheitsgurt liegt. Vor einem anderen Wagen mit geöffneter Heckklappe liegt ein Mensch auf dem mit Blut bedeckten Boden. Eine junge Frau, deren Oberkleidung zerrissen ist, liegt tödlich getroffen oder schwer verletzt auf dem Beifahrersitz eines weiteren Wagens. Dann sieht man diejenigen, die diese Bilder in diesem Raum gerade anschauen, unter ihnen Baerbock. Neben ihr sitzt ein Mann in einem olivfarbenen Hemd, der weint. Sein Nachbar streicht ihm über den Kopf, dann legt er den Arm auf dessen Schultern. In einer zweiten Einstellung sieht man, wie eine Frau den Blick vom Display abwendet, die Augen schließt und sich mit der rechten Hand über das Gesicht fährt, dann gibt sie sich einen Ruck und schaut wieder hin – sichtlich bewegt.


Szenen des Grauens

Es folgen weitere Bilder vom Ort der Verbrechen: Menschen, die kaum zu erkennen sind, lehnen an einer weißen Mauer. Vor einem Haus liegt fast nackt eine Leiche. In einem Hauseingang ist in einer Blutlache der Körper des ermordeten Menschen kaum zu erkennen. Nach einem Zwischenschnitt auf das Gesicht von Baerbock erkennt man auf dem Display einen zusammengeschossenen Körper, der auf einem Motorrad liegt. Dann folgt die Erklärung von Baerbock, die an diesem Abend alle Nachrichtensendungen ausführlich zitieren und in der sie sich indirekt zu einem israelischen Angriff auf den Nordteil von Gaza äußert.


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Seit der ersten Sonderausgabe der „Tagesschau“, die am Samstag, den 7. Oktober, um 15.27 Uhr ausgestrahlt worden war, kursierten in den Nachrichten- und Sondersendungen deutscher Fernsehprogramme Bilder der Gewalt. In den meisten Fällen handelte es sich um Auszüge aus Propagandavideos der Hamas, also um Bilder der Täter. Jede Terror-Einheit, das sah man diesen Ausschnitten auch an, war anscheinend von Personen begleitet worden, die mit ihren Mobiltelefonen das Geschehen aufnahmen und vermutlich sofort ins Netz stellten. Der Angriff war von Anfang als ein Medienereignis geplant.

An diesem ersten Tag der Berichterstattung zeigten die in den Nachrichtensendungen verwendeten Hamas-Videos zunächst nur, wie Teile des Grenzzauns in die Luft gesprengt wurden und dann kleine bewaffnete Einheiten mit Motorrädern, Pritschenwagen und Motorseglern nach Israel vorrückten. Man sah auch, wie ein israelischer Panzer erobert wurde. Es handelte sich also gleichsam um Kriegsbilder, die man ähnlich wie die Aufnahmen startender oder abgeschossener Raketen zwar mit Schrecken, aber leider auch mit einer gewissen Routine betrachtete.


Die Dimension des Terrors wird sichtbar

Erst am Abend und dann vor allem am nächsten Tag nahmen in den Fernsehsendungen die Aufnahmen zu, die von der brutalen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung zeugten. In einer Einstellung sah man, wie eine blutende, traumatisierte Frau, deren Hände gefesselt sind, aus dem Kofferraum eines Wagens gezerrt und über den Boden geschleift wird. Das Gesicht dieser Frau war zunächst noch zu erkennen; erst später hat man es unkenntlich gemacht. Die Szene stand nicht nur für die Gewalt, sondern auch für die Geiselnahmen, die man vor allem über Standbilder des Videomaterials dokumentierte. Zu sehen ist beispielsweise, wie eine verängstigte alte Frau mit gefesselten Händen auf einem Pritschenwagen sitzt, wie sich Kinder an ihre Mutter drängen oder wie ein gefesselter Mann auf einem Motorrad weggefahren wird, während Umstehende auf ihn noch einschlagen.

Angesichts all dessen ahnte man nun, was an diesem Tag in Israel geschehen war. Die Dimension des Terrors deutete eines der wenigen Gewaltvideos an, das nicht von der Hamas stammte und am Samstag erstmalig im deutschen Fernsehen gezeigt wurde. Es war in einer Kleinstadt aufgenommen und erfasste zunächst aus der oberen Etage eines Hauses eine Straße, über die schwer bewaffnete Kämpfer der Hamas ziehen und um sich schießen. In einer zweiten Einstellung zeigt die Kamera, die durch die Lamellen einer Jalousie und also für die Angreifer nicht sichtbar ihre Bilder aufnimmt, in einer Aufsicht einen Pritschenwagen, dem Männer mit automatischen Gewehren entsteigen und nach rechts schießen.

Diese beiden Einstellungen erinnerten an Aufnahmen, wie sie vor einigen Jahren bei den Terroranschlägen in Paris aufgenommen wurden. Das deutete an, dass die Hamas mit ihren wahllosen, ungemein brutalen Angriffen auf die Zivilbevölkerung nicht kriegerisch wie eine Armee handelte, sondern terroristisch wie etwa die Gruppe „Islamischer Staat“ mit ihren Attacken auf die Zivilbevölkerung in West- und Mitteleuropa. Das sollte sich am nächsten Tag, Sonntag, den 8. Oktober, bestätigen, als Bilder vom Angriff der Hamas auf ein Festival mit elektronischer Musik gezeigt wurden. Hier wurden mehr als 260 junge Menschen von der Hamas ermordet, nachdem sie über das freie Feld gejagt und in Unterständen aufgespürt worden waren.


Hass auf die libertäre Popkultur

Ähnlich waren die Terroristen im Paris vorgegangen, als sie 2015 ein Massaker im Veranstaltungsort Bataclan unter Konzertbesuchern anrichteten. Es ist, als sei die internationale und tendenziell libertäre Popkultur eines der großen Feindbilder des Islamismus, das er mit äußerster Gewalt bekämpft.

Am Sonntagabend verwandte der israelische Historiker Moshe Zimmermann in einer „Brennpunkt“-Sendung der ARD für den Terror der Hamas den Begriff „Pogrom“, mit dem seit Jahrhunderten die antisemitischen Attacken auf Jüdinnen und Juden bezeichnet werden. Damit war dieses organisierte Gewaltverbrechen, das andere noch in Begriffen des palästinensischen Befreiungskampfs zu erfassen versuchten und damit tendenziell zu legitimieren trachteten, historisch angemessen eingeordnet. Dass man das Gewaltgeschehen mit einem Begriff wie Pogrom zu begreifen versuchte, lag – so absurd das auch klingen mag - auch an den Videos der Täter. Erst mit ihnen stellte sich ein Eindruck von der Dimension dieses mannigfachen Gewaltaktes ein.

Dabei gingen die deutschen Sender weitgehend verantwortungsbewusst mit den Hamas-Videos um. Sie bearbeiteten sie stark, notierten ihre Herkunft und ordneten sie ein. Fatal bleibt eine solche Nutzung dennoch, da ihre Verwendung ja stets und immer nur und jenseits aller Kommentierung und Einordnung auch den Zweck der aufnehmenden Terroristen erfüllt. Der Journalist Deniz Yücel, der in einem Artikel der „Welt“ am 9. Oktober vorbehaltlos dafür plädierte, diese Videos auf Grund ihrer politischen Relevanz zu zeigen, wählte als Begründung einen historischen Vergleich: „Hätten Sowjets, Amerikaner und Briten darauf verzichten sollen, Aufnahmen aus Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen zu veröffentlichen? Wie würden wir heute über die Shoah denken? Und wer hätte davon profitiert, wenn sich diese Bilder nicht ins kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hätten?“

Dieser Vergleich charakterisiert die Bilder der Hamas nicht richtig. Denn das, was die Alliierten nach der Befreiung der Vernichtungs- und Konzentrationslager aufnahmen, waren Bilder der Tatorte und nicht Bilder der Verbrecher. Es sei daran erinnert, dass beispielsweise Claude Lanzmann für seinen epochalen Film „Shoah“ auf die Bilder verzichtete, die beispielsweise SS-Männer in den Lagern aufgenommen hatten und die noch zuvor in Kompilationsfilmen wie „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais verwandt worden waren.


Die Würde der Opfer wahren

Vielleicht war deshalb der kurze Nachrichtenfilm, in dem Annalena Baerbock und andere winzige Ausschnitte dieser Videos gemeinsam betrachteten und die Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Films ihnen dabei anschauten, so bedeutsam. Er dokumentierte die Schreckenskraft der Bilder, die nach den Taten an den Orten der Verbrechen aufgenommen worden waren. Eine Schreckenskraft, der sich sichtbar auch die hartgesottenen Profis der Krisendiplomatie nicht entziehen konnten. Angesichts dessen kam der Gedanke, ob man sich im Umgang mit den Gewaltbildern der Täter nicht eines Mittels bedienen könnte, das im Theater lange Zeit verwandt worden ist. Gemeint ist die Teichoskopie, also die Mauerschau, bei der auf der Bühne jemand das, was er jenseits des dargestellten Raumes sieht, für alle anderen schildert und dabei in und mit seinen Worten verrät, was dieser Anblick bei ihm bewirkt. Damit würden die Aufnahmen der Täter stets nur indirekt zu sehen sein und bliebe die Würde ihrer Opfer gewahrt.

Außenministerin Annalena Baerbock mit Betroffenen in Netivot (imago/Florian Gaertner)
Außenministerin Annalena Baerbock mit Betroffenen in Netivot (© imago/Florian Gaertner)

Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: In der „Tagesschau“ war an diesem Abend auch von den Opfern auf Seiten der palästinensischen Zivilbevölkerung die Rede. Als Baerbock in ihrer kurzen Ansprache erklärte, dass alle, die den Terror bekämpfen wollten, „vor unglaubliche Herausforderungen“ stünden, auch weil Demokratien wie Israel „das humanitäre Gebot ernst nehmen“, klang das nicht wie eine diplomatische Erklärung, sondern wie ein Stoßgebet. Wenige Tage später gab die Hamas an, in Gaza habe es bereits nach israelischen Raketenangriffen über 3000 Tote gegeben. Keine Geisel wurde freigelassen.

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