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Disziplin & Kontrolle (IV): „Bob le Flambeur“ von Jean-Pierre Melville

Im Blog „Disziplin & Kontrolle“ entpuppt sich der Heist-Film „Drei Uhr nachts“ von Jean-Pierre Melville als waschechter Liebesfilm

Veröffentlicht am
01. Mai 2024
Diskussion

Der vierte Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ über die Wandlungen des Heist-Movie-Genres greift den französischen Thriller „Bob le Flambeur“ (1956) von Jean-Pierre Melville auf. Darin wird zwar nach Heist-Movie-Sitte akribisch der Überfall auf ein Casino geplant. Doch dem Protagonisten kommen der Zufall und insbesondere die Liebe in die Quere. Die lässt sich sogar als eigentliche Triebfeder der Handlung verstehen.


Bob (Roger Duchesne), der in die Jahre gekommene Bankräuber aus „Bob le Flambeur / Drei Uhr nachts“ (1956) von Jean-Pierre Melville, ist ein Spieler. Ein Spieler ist insofern ein Masochist, da er sich hingibt – einer Münze, einem Würfel, einem Kartenblatt, einer Pistole. Er lebt skizzenhaft, im Konjunktiv, weil er weiß, dass die tatsächliche Welt durchsetzt ist von einer Vielzahl möglicher Welten im Larvenzustand. Der Spieler ist auch insofern Masochist, als er einen Vertrag schließt mit dem Zufall, dem er seine Handlungsmacht überschreibt. Wenn der Spieler seine Handlungsmacht aber vorsätzlich abtritt, reklamiert er gleichzeitig seine Ohnmacht. So spricht Gilles Deleuze zufolge in der Welt von Sacher-Masoch das Opfer, der gepeitschte Mann, durch den Mund der Täterin, der Frau im Pelz, da die Peitschende in ihrer Tyrannei dem Wunsch des Gepeitschten nachkommt. Auch Bob spricht durch den Mund des Zufalls, dem er sich durch das Glücksspiel hingibt, weil er die Ohnmacht, das Nicht-Identisch-Sein mit sich selbst, die Durchlässigkeit für die Zufälligkeit des Lebens, reklamiert als Lebensform. In dieser Hingabe liegt sein Charme und seine Melancholie.


Niemals gewinnen

Dass Bob Melancholiker ist, sieht man in den Augen des Darstellers Roger Duchesne. Es gibt da diesen Moment, in dem er einer jungen Frau Anne (Isabelle Corey) sein Bett überlasst und stattdessen das kleine Zimmer im oberen Stockwerk nimmt. Als sie seine Wohnung betritt, öffnet er die Tür einer Abstellkammer, in der ein einarmiger Bandit steht. Er wirft eine Münze ein, zieht den Hebel nach unten, und verliert. Anne fragt ihn, ob er gewinnt, woraufhin Bob antwortet: „Niemals.“

Auf die gleiche Weise wird Bob zu Beginn des Films vorgestellt. Er steht im verqualmten Hinterzimmer einer Bar im Pariser Vergnügungsviertel Pigalle. Es ist schon hell, und er wirkt müde. Die Würfel zeigen ihm die kalte Schulter. Bob setzt seinen Filzhut auf und verabschiedet sich. Die Stühle stehen auf den Tischen, Girlanden hängen von der Decke, halbleere Flaschen und Gläser, ein einsamer Musiker mit offener Krawatte spielt am Xylophon. Auf der Straße blickt Bob in einen Schaufensterspiegel und richtet den Kragen unter seinem Trenchcoat. Er sagt: „Ich sehe aus wie ein richtiger Gauner.“

Der Spieler überlässt der jungen Frau seine Wohnung (© IMAGO / Everett Collection)
Der Spieler überlässt der jungen Frau seine Wohnung (© IMAGO / Everett Collection)

So wie der Trinker auf das vorletzte Glas schielt, das Glas vor dem Glas, das seinen Kollaps herbeiführt, so schielt Bob auf das vorletzte Spiel. Er fährt ins Carpeaux, verliert abermals am Kartentisch und zieht weiter in die nächste Bar. Als er dort zwei Freunden erzählt, dass er in einer Nacht 200.000 Francs verzockt hat, fragen sie ihn, welchen Drink er will. Bob erwidert, dass er nichts will, bloß nach Hause, rollt die auf dem Tresen liegenden Würfel, verliert, bestellt einen Pastis.


Die Grenzen des Kinos

1982 schrieb Hartmut Bitomsky in der „Filmkritik“ über zwei Filme von Marguerite Duras. In dem Text wirft Bitomsky Duras gewissermaßen vor, ihr Ziel mit „Agatha et les Lectures Illimitées“ (1982) – eine Liebesgeschichte zu erzählen – verfehlt und als Reaktion auf diese Verfehlung „L’Homme Atlantique“ (1981) aus dem Restmaterial zusammengeschnitten zu haben, einen Essayfilm, bestehend aus übrig gebliebenen Einstellungen von Yann Andréa und im Verlauf des Films immer länger werdenden Schwarzbild-Sequenzen, dazu die Stimme von Duras und das Rauschen des Ozeans. Bitomsky verortete Duras’ Verfehlung nicht in ihrem handwerklichen Können, sondern in der Wahl ihres Themas, einem Etwas, das hinter den Grenzen des Kinos liegt: „Wie kann man über die Liebe sprechen, ohne ihr im Sprechen schon Gewalt anzutun?“ Duras habe dies schließlich begriffen und der Unmöglichkeit ihres Versuchs in „L’Homme Atlantique“ durch das sich immer weiter ausbreitende Schwarz, die Vernichtung des filmischen Zeichensystems, Ausdruck verliehen.

In seiner Duras-Kritik kommt Bitomsky unvermittelt auf „Bob le Flambeur“ zu sprechen, den er kurz zuvor wieder gesehen hatte. Der Plot des Films ist schnell zusammengefasst: Bob, ein Gangster im Ruhestand, ist pleite; er stellt ein Team aus Experten zusammen, um ein Casino in Deauville auszurauben, in dessen Tresor 800 Millionen Franc liegen. Bob schwört dem Glücksspiel ab, bis der Raub über die Bühne gegangen ist. Doch in der Nacht des Überfalls wird er rückfällig. Über seiner an mathematische Unmöglichkeit grenzenden Glückssträhne am Pokertisch vergisst er den Plan und nimmt das Casino auf legale Weise aus, während seine Leute sich auf der Straße einen Schusswechsel mit der Polizei liefern. Nach Bitomsky strukturiert der Heist-Plot den Film jedoch nur scheinbar. Die eigentliche Triebfeder der Erzählung sei die „ungewöhnliche, unerklärliche Liebe“ zwischen Bob und Anne, ein Etwas, dass sich dem Kino entzieht.

Melville zeigt Bob als Spieler, der weiß, dass er nie gewinnen wird ( © IMAGO / Everett Collection)
Melville zeigt Bob als Spieler, der weiß, dass er nie gewinnen wird ( © IMAGO / Everett Collection)

In der Tat ist Anne die erste Figur, die der Film in ihrem Treiben durch das Pigalle der Morgenstunden zeigt. Bob beobachtet, nachdem er seinen Kragen im Schaufensterspiegel gerichtet hat, wie sie zu einem US-Matrosen aufs Motorrad steigt, nachdem der Matrose ihr zuruft: „Come on, Baby.“ Und noch während des finalen Überfalls schneidet Melville vom dem Spielrausch verfallenen Bob zurück in sein Apartment, zurück zu Anne, die dieses betritt, den Haustürschlüssel in die Luft wirft und wieder auffängt, in den Worten Bitomskys „eine hilflose Geste eines Filmemachers, der daran rühren möchte, was er erzählen wollte; doch diese Erzählung hat sich als zu groß für seinen Film erwiesen“.


Fünf Minuten, aber keine Lebenszeit

Wenn Melville 1968 im Interview mit „Sight & Sound“ sagt, dass er nicht in der Lage sei, Filme zu machen, die über grobe Skizzen hinausgehen, so scheint es nun, als suche er Unterschlupf im Genre, da die Liebe, von der er eigentlich erzählen will, zu überwältigend ist für das Kino, dessen Bilder doch nur Oberflächen darstellen können. Auch in „Der eiskalte Engel“ (1967) verrät sich das Etwas zwischen Jef Costello (Alain Delon) und Jane Lagrange, gespielt von dessen damaliger Ehefrau Nathalie Delon, bloß durch die Zärtlichkeit ihrer Gesten. Der Film zeigt nicht mehr als einen Wangenkuss und konserviert vielleicht gerade dadurch die Liebe seiner Figuren, ohne diese durch den Akt der Entblößung zu beschädigen.

Zwei Jahre später folgt dann Nathalie Delons Kurzauftritt in „Armee im Schatten“ (1969), als der Résistance-Kämpfer Félix Lepercq (Paul Crauchet) am Tresen einer Bar in Marseille zufällig auf Jean-François (Jean-Pierre Cassel) trifft und draußen vor der Tür sprechen will, um ihn für den politischen Kampf gegen die deutschen Besatzer zu gewinnen. Als Jean-François die unbekannte Frau neben ihm auffordert, fünf Minuten zu warten, erwidert sie: „Ich werde fünf Minuten auf dich warten, aber keine Lebenszeit.“

Auftragskiller und Geliebte in Melvilles „Der eiskalte Engel“ (© Pathé Films/Editions René Château/Fida Cinematografica)
Auftragskiller und Geliebte in Melvilles „Der eiskalte Engel“ (© Pathé Films)

Es ist, als wolle Melville uns ermahnen: Wenn schon über Liebe sprechen, dann so wie Tony Leung in „In the Mood for Love“. Im Flüsterton nämlich, hinein in ein Loch in der Mauer eines Tempels, das danach mit Lehm verschlossen wird, unverfügbar für die Ohren des Publikums, ohne Untertitel. Die Leichtigkeit der Erzählhaltung lässt schon zu Beginn ahnen, dass Melville ein ebensolches Geheimnis in sein vom Lehm versiegeltes Filmmaterial geflüstert hat. „Bob le Flambeur“ ist kein Heist-, sondern ein Liebesfilm, ebenso wie der Überfall auf das Casino sich in der filmischen Erzählung bloß als Tagtraum eines Gangsters abspielt, der sich eigentlich nach etwas anderem sehnt.


Literaturhinweis

Masochism: Coldness and Cruelty. Von Gilles Deleuze. Zone Books, New York, 1991.

Kinowahrheit. Von Hartmut Bitomsky. Vorwerk 8, Berlin 2003.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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