Drama | Chile 2019 | 102 Minuten

Regie: Pablo Larraín

Der obsessive Wunsch nach einem leiblichen Kind lässt den Adoptionsversuch eine chilenische Tänzerin zunächst scheitern. Doch bald bedauert sie es, den kleinen Jungen an die Behörden zurückgegeben zu haben, und begibt sich auf einen ungewöhnlichen Feldzug, um ihn zurückzugewinnen. Durch seine intensive szenische Erzählweise findet der außergewöhnliche Film markante Bilder für die Ambivalenz von Mutterschaft und verbindet die Kraft des Reggaeton-Tanzes eindrucksvoll mit der Suche nach neuen Lebensweisen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
EMA
Produktionsland
Chile
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Fabula
Regie
Pablo Larraín
Buch
Guillermo Calderón · Pablo Larraín · Alejandro Moreno
Kamera
Sergio Armstrong
Musik
Nicolas Jaar
Schnitt
Sebastián Sepúlveda
Darsteller
Mariana Di Girolamo (Ema) · Gael García Bernal (Gastón) · Paola Giannini (Raquel) · Santiago Cabrera (Aníbal) · Cristián Suárez (Polo)
Länge
102 Minuten
Kinostart
22.10.2020
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Tanzfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Koch (16:9, 2.35:1, DD5.1 span./dt.)
Verleih Blu-ray
Koch (16:9, 2.35:1, dts-HDMA span./dt.)
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Experimentelles (Tanz-)Drama um eine chilenische Tänzerin, die sich nach einem leiblichen Kind verzehrt, im Kampf um einen adoptierten Jungen dann aber über sich hinauswächst.

Diskussion

Das hörbare Knistern eines brennenden Feuers geht dem ersten Filmbild auf unheilvolle Weise voraus. Erst dann gibt die Leinwand den spektakulären Blick auf eine in Flammen stehende Verkehrsampel frei. Sie schwebt über den menschenleeren Straßen in einem surrealen Brand, den die Bewegung der Kamera mit einer jungen Frau in Schutzmontur verschränkt. Was zunächst wie ein Löschwerkzeug in ihren Händen erscheint, entpuppt sich als Flammenwerfer.

Die peroxidblonde Ema (Mariana Di Girolamo) ist in mehrfacher Hinsicht eine Brandstifterin. In einem grandios choreografierten Prolog entfaltet der chilenische Regisseur Pablo Larraín die Vorgeschichte seiner charismatischen Protagonistin wie in einem Tanz. Fragmentarische Szenen zu hypnotischer Elektromusik bilden einen Reigen, aus dem sich erst nach einer Weile Rückblenden und Gegenwartshandlung herausdifferenzieren.

Ema stattet einer Sozialarbeiterin beim Jugendamt einen unangekündigten Besuch ab, der im Streit endet. Die junge Frau hat ein Kind adoptiert und es nach kurzer Zeit wieder an die Behörde zurückgegeben; eine Entscheidung, die sie nun bereut. Doch der kleine Polo ist längst bei einer anderen Familie untergebracht, die offenbar mehr Sicherheiten zu bieten hat als die androgyne Tänzerin. Nahtlos geht der Dialog der beiden Frauen in eine andere Szene über. Eine Formation von Tänzern gruppiert ihre Körper im Dunkeln eines Saals um eine Videoleinwand, von der aus ein Feuerball das Geschehen in ein unheimliches Licht taucht. Sie umkreisen in Rotationsbewegungen bald den Körper Emas, der an die Stelle der Sonne tritt. Ein Bild, das Larraín ins symbolische Zentrum des Films stellt und immer wieder neu in Szene setzt.

Mutterschaft um jeden Preis

Ema will mit einer solchen Unbedingtheit Mutter werden, dass diese lebensspendende Wärme zur sengenden Verletzung für ihre Umgebung wird. Das bekommt vor allem ihr Partner Gastón (Gael García Bernal) zu spüren, den sie für seine Unfruchtbarkeit mit kränkenden Wortsalven bombardiert. Seine Entgegnungen stehen dem in ihrer Schärfe kaum nach. Er wirft ihr vor, den Adoptivsohn Polo nicht angenommen und gleichwohl in eine perverse, destruktive Beziehung gedrängt zu haben. Tatsächlich verstört die Grenzenlosigkeit Emas, mit der sie körperliche Nähe einfordert und vom Besitz eines leiblichen Kindes fantasiert. Im Konflikt um Polo taucht für sie die Möglichkeit auf, sich aus ihren Abhängigkeitsstrukturen zu lösen und nach Autonomie zu suchen. Der Feldzug, auf den sie sich begibt, um zu beweisen, dass sie auch ein fremdes Kind lieben kann, wird zu einer Gratwanderung zwischen Emanzipation und Entgrenzung.

Pablo Larraín hat sich in fast allen seinen Filmen bislang der chilenischen Geschichte gewidmet; sie alle zeichneten sich durch eine grimmig-innovative Ästhetik aus. Die Pinochet-Diktatur wurde in „Tony Manero“ und „Post Mortem“ in Tanz- und Zombiefilme eingebettet, die mit Genre-Konventionen experimentierten, während „No!“ und das Missbrauchsdrama „El Club“ ihre politische Kritik in pointierten Dialogen ausspielten.

Mit „Ema“ scheint sich eine neue Linie im Schaffen Larraíns abzuzeichnen, die weibliche Passionen und Freiheitskämpfe in den Blick nimmt. Hauptdarstellerin Mariana Di Girolamo trägt mit ihrer enigmatischen Ausstrahlung entscheidend dazu bei, „Ema“ eine Sogwirkung zu verleihen, die den Film zu einem Medium der Verführung werden lässt.

Die Kraft des Reggaetons

Um ihr verlorenes Kind zurückzugewinnen, wird die Tänzerin Männer wie Frauen in ihren Bann schlagen und ins Bett ziehen. Nach einer vorläufigen Trennung von Gastón lässt sie sich mit ihrer Mädchen-Gang aus der Tanzkompanie durch die leuchtenden Straßen der Hafenstadt Valparaíso treiben, begleitet von pulsierenden Reggaeton-Beats und erfüllt von einem undurchschaubaren Plan. Die agile Kamera von Sergio Armstrong erschafft immer wieder neue Bühnen für die jungen Frauen, die für sich selbst tanzen und durch die gemeinsamen Rhythmen zu einem neuen Körpergefühl finden. Reggaeton sei die Musik der Häftlinge, wütet Gastón in einem grandios gespielten Monolog. Der stampfende Beat reduziere den Menschen auf die eigene Triebhaftigkeit, um ihn davon abzulenken, dass er ein Gefangener ist. Doch Ema und ihre Freundinnen eignen sich die machistisch geprägte Musik in einer queeren Strategie für ihre eigenen Zwecke an.

In diesen Momenten wird „Ema“ zu einem durchaus politischen Zeit- und Generationenporträt, weil es die binäre Geschlechteraufteilung mit unaufdringlicher Selbstverständlichkeit überschreitet und zugleich zeigt, dass Lust und Begehren ohnehin nie darin aufgehen. Hier schafft Larraín auch eine Referenz an „Teorema - Geometrie der Liebe“ von Pier Paolo Pasolini, in dem Terence Stamp die Rolle eines namenlosen Verführers spielte, der mit allen Mitgliedern einer bürgerlichen Familie schläft und damit symbolisch die Gesellschaftsordnung zerstört. Ema ist ebenfalls weniger ein Filmcharakter als eine Naturgewalt, die ihre Nächsten nach rhythmischem Vorspiel überrollt. Allerdings zerstört sie nicht nur, sondern bindet und verwickelt auch neu. So präsentiert „Ema“ schließlich die Wiedergeburt der Kleinfamilie als queere Gemeinschaft wider Willen. „Mama Ema“, wie Gastón sie einmal spöttisch nennt, lässt jeden Widerstand wie Eis in der Sonne dahinschmelzen.

Eigensinnig, betörend und herausfordernd widersetzt sich „Ema“ auch Einordnungen in filmische Kategorien. Die Entfaltung des Szenischen geht der Handlung immer so weit voraus, dass sich nie eine Übersicht auf das Geschehen einstellt. Es lädt dazu ein, sich den Bildern in ihrem Rhythmus zu überlassen und der Verführung nachzugeben.

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