© Twentieth Century Fox (Artwork zu "Terminator: Dark Fate")

Was ist Filmkritik?

Ein Gespräch mit Dietmar Dath, dem Siegfried-Kracauer-Preisträger für die beste Filmkritik 2020, über seine Beschäftigung mit dem Kino.

Veröffentlicht am
03. Januar 2021
Diskussion

Dietmar Dath, Jahrgang 1970, ist ein unerhört produktiver und mehrfach ausgezeichneter Autor von Romanen, Theaterstücken, Hörspielen, Sachbüchern und Essays, der auch als Übersetzer, Musiker und seit 2011 als Filmkritiker im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ tätig ist. Von 1998 bis 2000 fungierte er als Chefredakteur der SPEX, dem Magazin für Popkultur. Für seine Kritik zu Tim Millers „Terminator: Dark Fate“ wurde er mit dem Siegfried-Kracauer-Preis für die beste Filmkritik 2020 ausgezeichnet. Die Jury lobte dabei insbesondere die sprachliche und sinnliche Qualität des Textes, die nicht nur eine literarische Form entwerfe, sondern zum Nachdenken über die politische Gegenwart anrege. Ein Interview über Filmkritik, Dissidenz und Subversion, Dustin Hoffman, Don Johnson und Mackenzie Davis.


Sie wurden mit dem Siegfried Kracauer-Preis für die beste Filmkritik 2020 für Ihren Text zu „Terminator: Dark Fate“ ausgezeichnet. Gratulation! Bedeutet Ihnen diese Auszeichnung etwas?

Dietmar Dath: Oh, das ist schwierig zu sagen. Einerseits lebt ja eine Festanstellung bei der Zeitung auch davon, dass man sagt: Das, was ich hier mache und tue, bringt auch etwas für die Zeitung. Wenn jetzt also ein konkreter Text, der in dieser Zeitung publiziert wurde, ausgezeichnet wird, dann wird ein Text und nicht insgesamt die Arbeit oder die Personality eines Autors ausgezeichnet, das hilft auch intern im Laden. Also: Da gibt es diesen Preis, den haben auch schon andere bekommen, die woanders geschrieben haben. Und jetzt eben jemand von uns. Dass man sich da freut, macht ein bisschen ein schlechtes Gewissen: Bin ich jetzt auch so ein Aufmerksamkeitsökonomie-Idiot? Andererseits wird man durch so einen Preis daran erinnert, dass man in einem Kontinuum wirkt. Es gibt eine Auseinandersetzung mit der Kunstform Film, die sogar über Kracauer hinaus zurückdatiert bis zu ein paar Menschen, die man heute noch staunend liest, wie tief die in die Materie eingedrungen sind. Und der Preis sagt dir qua Namen: Da gehörst du jetzt auf irgendeine Weise dazu. Das ist ganz erhebend, und für mich fast befremdlich, weil ich da eher reingestolpert bin. Ich habe ja keinen Filmkritiker-Weg genommen. Es gibt diesen Beruf des Filmkritikers, einen Verband, etwas Innungsartiges. Eine Art Handwerk. Da bin ich als Stranger reingestolpert.

Dietmar Dath (© imago images / Hoffmann)
Dietmar Dath (© imago images / Hoffmann)

Ich hatte mich 2007 von der FAZ verabschiedet, weil ich dachte, dass eine Festanstellung für mich nichts sei; ich wollte mich auf die Literatur konzentrieren. Ein paar Jahre später habe ich gesehen, dass meine Arbeitsorganisation unter der „Freiheit“ litt. Ich habe tatsächlich viel weniger gemacht in diesen Jahren zwischen FAZ und FAZ. Mein Tagesablauf entwickelte sich in Richtung Prokrastination: Spät aufstehen, erstmal Zeitung lesen, dann noch mal kurz in die Stadt. Wenn mal wieder Geld reinkommen musste mittels Schreiben, dann habe ich das auch gemacht, aber die Romane, Theaterstücke, auch Nebentätigkeiten wie Musik gerieten allmählich zu einer Art von verschleppter Samstagnachmittag-Sache. Ich merkte, dass ich offenbar doch so sehr auf Entfremdung geeicht bin, dass ich Tritte in den Hintern brauche. Dann habe ich mich wieder bei der FAZ gemeldet und gesagt, es wäre doch ganz schön, wenn ich zurückkommen könnte. Frank Schirrmacher erklärte damals, dass das eigentlich nicht gehe, weil man in Zukunft nicht noch allzu viele Stellen schaffen werde. Dann war es aber so, dass zu diesem Zeitpunkt ein wahnsinnig netter Mann, der auch noch ein großartiger Filmkritiker war, gestorben ist: Michael Althen. Jetzt war eine Stelle für Filmkritik zu besetzen, um diese Aufgabe in der Tageszeitung nicht allein auf den Schultern von Verena Lueken abzuladen. Ich stand also vor der Alternative: Entweder, ja, es ist nominell eine Filmkritikerstelle, aber eigentlich kannst du machen, was du willst. Musst dich nur ein bisschen um Film mitkümmern. Oder aber du nimmst diese Herausforderung an als jemand, der bislang über Filme eher laienhaft geschrieben hat, wenn es mal eine Überschneidung mit den sonstigen Interessen wie Science-Fiction oder Popkultur gab. Okay, dann war ich also Filmkritiker. Ich habe gar nicht erst versucht, Michael Althens Position einzunehmen, was Arbeitsabläufe, den intellektuellen Level oder die Vertrautheit mit den Gegenständen angeht. Sondern mich bemüht, mir das auf meine Art draufzuschaffen. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, mir das Ressort selbst auszusuchen, wäre ich bei der Literatur gelandet, weil ich selbst welche mache und damals auch viel mehr gelesen habe als Filme zu schauen. Und auf Platz 2 kam dann eher noch die Popmusik. Jetzt änderte sich das. Plötzlich kam ich in Berührung mit Weltkino. Einen peruanischen oder chilenischen Film hatte ich vorher noch nie gesehen. Beim Arthouse-Kino hatte ich noch ein sehr schmales Repertoire. Das waren dann Filmemacher, die in irgendeine Genre-Richtung gingen. Wenn ich irgendwo las, dass „Antichrist“ von Lars von Trier „doch nur so eine Art Horrorfilm“ sei, dann musste ich lediglich das „nur“ durchstreichen, um mich dafür zu interessieren. So habe ich versucht, das zu lernen. Ich habe mir ein Beispiel genommen an Leuten wie Andy Mangels oder Harlan Ellison. Die hatte ich viel gelesen und die gingen – wie ich – nicht aus cineastischen Gründen ins Kino. Dann guckte ich die anfallenden Filme und, wie bei einer Klassenarbeit, meiner Nachbarin Verena Lueken über die Schulter, wie die ihre Sache schmeißt. Deren Texte fand ich immer schon glänzend. Diese spezifische Mischung aus „Ich hab’ keine Ahnung“, „Ich fall’ da rein“, „Ich geb’ mir die größte Mühe, weil ich das auch als Broterwerb ernst nehme“, „Ich spick’ ein bisschen zur Seite“ und dabei immer Leute im Hinterkopf behalten, die mich früher begeistert haben. So lässt sich beschreiben, was da passiert ist.

Interessant, wie Sie das ausbreiten! Die ersten Texte von Ihnen habe ich Anfang der 1990er-Jahre in „Heaven Sent“ gelesen. Das war ein Theorie-Kultur-Magazin, in dem man Klaus Theweleit, Friedrich Kittler, Judith Butler, Greil Marcus, Elisabeth Bronfen, Slavoj Zizek, aber auch Marcel Reif, John Woo, Joe Baiza oder Public Enemy begegnen konnte. Stichwort: Cultural Studies, jenseits von Academia. Aber auch dort haben Sie eher von den Rändern her operiert, waren für Superhelden-Comics, Kirchenanzünder-Metal, Wissenschaft und Tourbegleitung der Agentur Bilwet zuständig. Später bei SPEX waren Sie Chefredakteur, der über Whitney Houston oder George Michael geschrieben hat. Auch nicht so ganz auf Linie. Vergleichbar irgendwie, oder?

Dath: Absolut! Ich komme immer irgendwie ein bisschen vom Rand. Wobei das Lustige ist, wenn der Ort selbst ein Rand ist, durchaus auch ein ehrenwerter Rand wie die SPEX, dann ist der Rand vom Rand möglicherweise ein Schritt Richtung Mainstream. Wenn man Whitney Houston gut findet, ist man in der SPEX der Rand, aber draußen vor der Redaktionstür gerade eben nicht der Rand. Das war schon eine interessante Position! Das passiert mir hier auch manchmal, wenn ich hier einen japanischen Anime vorschlage. Dann denken manche, das sei super-obskur. Für den traditionellen Leser von Filmkritiken mag das ganz weit draußen sein, aber schau mal, wie viele Manga-Menschen sich auf Buchmessen tummeln. Objektiv ist das ein riesiger Pop-Markt. Mir gefällt es sehr, von der Peripherie her ins Argument für eine Kunst zu kommen, weil der Rechtfertigungsdruck größer ist. Man muss den Kollegen und Kolleginnen erklären, warum man das jetzt machen will, dann ist das eine Art Generalprobe für die Kommunikation mit dem Publikum. Man muss anderen, aber auch sich selbst erklären, warum das jetzt so toll ist! Das hält einen wach.


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Nun sind Sie für die Kritik zu „Terminator: Dark Fate“ ausgezeichnet worden. Die x-te Fortsetzung eines Franchises, dessen erste zwei Teile unter der Regie von James Cameron sozusagen als Konsenskunst vorausgesetzt werden können. Aber danach kam nur noch Langeweile. Diesen Quatsch lassen Sie gleich weg, kehren zu den Classics zurück und behandeln Teil X als Teil 3, um die Anschlüsse und Differenzen in Sachen Diversität zu profilieren und auch zu kontextualisieren. Dann aber geht die Kritik unvermittelt in die Vollen und weitet, durchaus subjektiv, den Blick: „Wie verhalten sich Kämpfe derjenigen, die ,aus einer anderen Zeit kommen‘ (oft heißt das nur: aus einer anderen, weniger entwickelten Gegend), zu hiesigen? Wer sich gegen das sträubt, was Mächtige wollen, muss fragen: Kann ich mit Leuten, mit denen ich nur eins gemeinsam habe, nämlich die Tatsache, dass man mich gegen sie und sie gegen mich hetzt, praktisch solidarisch sein? Was könnte Leute, denen es woanders zu blöd war, mit denen ins Gespräch bringen, die wissen, wie blöd es hier ist?“ Eine Passage wie ein Stolperstein, die den Film auflädt, um dann folgenden Halbsatz anzuschließen: „Wahrscheinlich nicht mit sonderlich tief durchdachter Absicht, aber doch durchs Ansaugen von möglichst viel zeitgemäßem Zeug aus den Nachrichten (Menschenschmuggel, Drogenleid, Krieg), handelt „Dark Fate“ von diesen Fragen (…)“. Dieses Verfahren nutzen Sie gerne. Sie schreiben Dinge an einem spezifischen Ort, die dort nicht so richtig hingehören und darum auch wissen. Widerborstigkeit? Subversion?

Dath: Die Idee ist ja – ich habe das wohl als Teen in der SPEX gelesen – dass für junge Menschen mit etwas Glück jeder Mist ein Wegweiser zum Richtigen ist. Es gibt ja Menschen, die sind über „The Police“ zum Reggae gekommen. Wenn wir uns erinnern, dass irgendwann in der Trump-Zeit diese Karawane aus Mittelamerika kommen sollte, um die USA zu fluten, so hieß das immer von Rechts, dann bietet der Film allerlei Bilder zu diesem Thema: Grenzübertritte, Menschenschmuggel, überfüllte Züge, aber parteilich für die Leute dort. Das heißt doch, dass man in einem Action-Blockbuster, der überall zu sehen ist, plötzlich auf der Seite jener sein soll, von denen einem Fox News eintrichtert, dass sie kommen, um dir ganz böse deine Jobs wegzunehmen oder alle Frauen zu schänden. Ich glaube nicht, dass diejenigen, die diesen Terminator-Film machen, das absichtlich so eingerichtet haben, dass sie sich also dazu positionieren oder subversive Botschaften einschmuggeln wollten. Die denken wahrscheinlich eher zynisch wie seinerzeit im Exploitation- oder auch Blaxploitation-Kino. Also etwa: Wie kriegen wir die Latinas und Latinos ins Kino? Indem wir deren jungen Stars eine Plattform bieten. Ich trage das nicht in den Film herein, sondern es ist tatsächlich im Film drin. Aber eben nicht aus dem Grund, aus dem ich das interessant finde. Vielleicht bringt das ja den Leuten etwas, die nie ein politisches Flugblatt lesen würden, das von solchen Dingen erzählt. Die jetzt etwas als normal mitkriegen, was möglicherweise eine Tür öffnet zu einem anderen als dem normierten Denken. Wenn man Film politisch liest, muss man um zwei Ebenen wissen, sobald es sich um Mainstream-Filme handelt, also um Kommerz-Produkte, für die ich mich aus dem genannten Grund besonders interessiere: Erstens, wenn Leute, die so denken wie ich, einen Film machen, die es in Hollywood ja auch gibt, dann ist es fast zu einfach, mit denen in einen Dialog zu treten. Kann man machen, Nachvollzug des Gemeinten. Aber wenn es sich um Hollywood handelt, dann ist die Frage eben eher eine zweite: Taugt so ein Zeug, um ästhetische, politische, emotionale, psychologische, soziale Reaktionen zu initiieren, die dann dahin oder dorthin führen, ohne dass eine Absicht da gewesen sein muss. Mit oder ohne, kann es das? Es ist ja kein pädagogischer Film.

Mit der terminator-Rolle gealtert: Arnold Schwarzenegger in "Terminator: Dark Fate")
Mit der Terminator-Rolle gealtert: Arnold Schwarzenegger in "Terminator: Dark Fate"

Es handelt sich dann wohl um Realitätseinschüsse, oder?

Dath: Genau das! Phantastik, zu der das meiste gehört, was ich bespreche, hat immer auch die Aufgabe, Realitätssplitter reinzutragen, weil man die phantastischen Sachen sonst nicht für voll nehmen würde. Es muss schon immer etwas darin sein, was man mit dem oder denen gemeinsam hat, was der oder die sich ausgedacht haben. Wobei ich bei dieser Filmkritikertätigkeit das große Glück habe, dass ich das Ganze wiederum für mich selbst nicht zu ernst nehmen muss. In dem Sinne, dass keine Überzeugungen oder das eigene ästhetische Projekt in einem Umfang daran hängt, wie es mir beispielsweise bei dem Wort „Science-Fiction“ als einem Begriff für Literatur geht. Wenn ich etwas über Science-Fiction als Literatur sage, will ich viel stärker Recht haben, weil ich darüber seit 35 Jahren nachdenke. Da kommt es dann zu geronnenen Meinungen. Beim Film ist alles mehr im Fluss. Da kann es auch passieren, dass ich meine Meinung zwischen der Filmsichtung und dem Schreiben ändere. Und noch besser: Ich bin offener für Korrektur. 2019 lief „Joker“ von Todd Philipps in Venedig. Mir hat der Film gefallen, weil ich dachte, hier wird mal ein Wutbürger, ein Querdenker, von innen seziert. Man kann verstehen, warum der so ein fürchterliches Schwein wird, was vielleicht besser ist, als ihn einfach nur abzulehnen. Ich dachte, okay, das hat ja eine tragische Dimension. Das habe ich dann auch in diesem Sinne geschrieben. Es geht um den Verfall der Mittelschicht, die dann solche Amok-Typen hervorbringt. Das Ganze überlagerte sich mit meinem Comic-Wissen, weil meine Lieblings-„Joker“-Comics genau davon erzählen. Nachdem ich die Kritik publiziert hatte, traf ich zufällig die Filmkritikerin Beatrice Behn, die mir erzählte, dass „Joker“ Scheiße sei, weil, wie sie mehr als befürchtete, es da draußen Leute gäbe, die Joker dafür lieben würden, wie er ist. Für irgendwelche vor ihren Rechnern sitzenden Kellerfaschos werde das jetzt der neue Hero. Ich: Nein! Der Film sei doch… fast hätte ich das Wort „kritisch“ benutzt, was natürlich absurd ist. Aber der Film sei doch voller Ambiguitäten, voller Risse und Brüche, viel zu komplex für diese Leute. Aber die Kollegin sollte Recht behalten. Wenn jetzt also der nächste Film kommt, der mich in vergleichbarer Weise triggert, werde ich das anders handhaben. Deshalb ist es ein Glück, wenn man keine Parteilinie hat, weil man nicht mit Haut und Haaren ein Filmtyp ist. Sie haben anfangs gefragt, was mir der Kracauer-Preis bedeutet. Mir bedeutet Film inzwischen eine Menge, weil ich so viel damit gelernt habe. Aber es ist nicht so, dass ich das schon als Kind wollte. Preisträger sagen ja häufig bei der Preisverleihung: „Ja, das ist jetzt das Ende eines langen Weges, weil ich schon als Kind mit dem Feuerwehrauto gespielt habe. Und jetzt, als Erwachsener…“ Film ist für mich seit zehn Jahren Lehrlingstätigkeit, wobei die Resultate offenbar teilweise manchen gefallen. Prima!

Wobei mir das Beispiel jetzt nicht so ganz einleuchtet. Weil ich Ihre unmittelbare Reaktion auf „Joker“ sehr gut nachvollziehen kann, während ich die andere Position eher um die Ecke gedacht finde. Wenn man die Kellerfaschos schon nicht unter Kontrolle bekommt, werden sie jedenfalls erstmal auf Diät gesetzt, indem man den Film einhegt, oder? Der Film ist ja da.

Dath: Die interessante Frage ist doch: Könnte man diese Geschichte auf eine Art erzählen, dass der Film das nicht mehr erlaubt? Dass der Protagonist also positiv besetzt wird? „Joker“ ist das nicht gelungen. Die Anime-Serie „Paranoia Agent“ ist mir leider erst hinterher eingefallen. Da bildet sich ein Miesling, der miese Sachen macht, ein, er sei der Held der Geschichte. Das heißt, man siehst, wie er sich die Sachen zurechtlügt. Das imprägniert in gewisser Weise. Würde man sich mit dem identifizieren, wäre man genauso mies, das sieht man. Das wäre eine Möglichkeit. Es gibt sicher einige andere mehr. Ich stehe auch zu meinem ersten Eindruck. Todd Philips ist ja kein Idiot und versucht sich an einer Vivisektion dieser Figur. Worum es mir aber bei dem Beispiel geht: Ich habe etwas gelernt. Nämlich, so wie ich es gucke, gucken es eventuell nicht alle. Und eine Kritikerin wie Beatrice Behn, die das mitdenken kann, ist mir an dem Punkt einfach voraus. Was es mittlerweile an Memes gibt, die Joker als cool promoten, hat mich eindeutig widerlegt.

"Joker" (© Warner Bros.)
"Joker" (© Warner Bros.)

Einer der schönsten, weil überraschendsten Momente der letzten Zeit, von denen ich wirklich hingerissen war, resultierte aus Ihrer Videokritik zu „Die Eiskönigin 2“. Ich habe keine Kinder im entsprechenden Alter, aber ich habe Freunde, bei denen die Kinderzimmer so aussehen, als habe die Eiskönigin persönlich sie eingerichtet. Und dann sitzen Sie als Eiskönigin verkleidet vor der Kamera, feiern den Film, der ja von Transformation und Ähnlichem handelt. In doppeltem Sinne gefragt: Genießen Sie bei der FAZ Narrenfreiheit? Was sagen die um Seriosität bemühten Kolleg*innen vom Wirtschaftsteil in der Kantine dazu?

Dath: Wir sind ja ziemlich viele hier. Es ist nicht Moskau 1936, wo alles auf Linie gebracht wurde. Es gibt mehrere Stockwerke. Die Politikredaktion sieht sowieso viele Dinge anders als die meisten hier im vierten Stock, von Klimaschutz bis zur Autoindustrie. Diese Kritik zu „Die Eiskönigin 2“ war in der Tat ein Akt der Liebe, weil ich vom ersten Teil des Films wirklich überrascht worden bin und meine Erwartungen komplett über den Haufen geworfen wurden. So etwas schätze ich über alles! Wenn mir ein Kunstwerk eine Falle stellt, in die ich tappe und diese Falle sich dann als Geschenk erweist. Die Kritik war insofern eine doppelte Geste der Dankbarkeit, weil ich Angst hatte, dass der zweite Teil die Kostbarkeit des ersten Teils verhunzt. Aber die Macher haben dem ersten Teil die Treue gehalten, was mich tief beglückt hat. So. Und jetzt zum Thema Narrenfreiheit! Was ist denn mit dem Wort „Fan“? Wir kennen uns aus einer Welt, die immer schon eine Balance versucht, die Begeisterung zulässt, ohne das Gehirn abzuschalten. Kritik und Genuss müssen sich nicht spinnefeind sein. Nicht im bürgerlichen Sinne, wo Kritik Staatsbürgerpflicht ist und Genuss ein Teil der Freizeit. Wir machen ja Popkritik, weil Begeisterung zwar notwendig ist, aber nicht hinreichend. Das ist die Tür, durch die man geht. In einem Medium wie der FAZ wird dieses Notwendige nicht unbedingt gerne gesehen. Das gilt als distanzlos. Aber ich spreche ja nicht über mich, sondern über Menschen wie mich, wenn ich sage, der Film macht glücklich. Das ist dann die notwendige Beigabe von Selbstreflexion und Gesellschaftsanalyse, denn wer fragt: Wer bin ich?, der muss auch sagen, was er mitbringt, was ihn prägt, welche Erfahrungen und Privilegien er hat oder auch gerade nicht hat et cetera. All das, was hier um das Wort „Ich“ herumschwirrt, ja selbst das Wort „Ich“, war ja bis vor gut zehn Jahren komplett verboten in dem Bereich der bürgerlichen Tageszeitung, der auch noch einen französischen Namen hat, damit klar ist, dass man mindestens auf dem Gymnasium gewesen sein muss, um das überhaupt aufblättern zu dürfen. Fantum und Begeisterung ist dem „interesselosen Wohlgefallen“, das Kant über die Kunsterfahrung gepredigt hat, schlicht entgegengesetzt. Das Traurige war dann, als im Zeichen der „Berliner Republik“ Anspruch und Kompetenz herunternivelliert wurden. Kanzler Schröder mochte nicht einmal mehr den „Spiegel“ lesen, sondern regierte lieber mit „BILD“ und Glotze. Weltweit hieß es dann im Zeichen von Politik und Ökonomie: Jetzt mal weniger kompliziert! Jetzt mal bitte dümmer und brutaler! Hieß es vorher noch: Pop ist dumm, also schreiben wir nicht darüber!, so hieß es jetzt: Pop ist dumm, also schreiben wir gerade darüber! Trash ist cool! Und wer war nochmal gleich dieser Adorno? Beide Haltungen finde ich gleichermaßen scheiße. Mein Ansatz wäre zu sagen: Gute Kunst ist einfach widersprüchlicher als die Dichotomie von „dumm“ und „nicht dumm“, egal ob es sich dabei um Massenkultur handelt oder das Zeug in der Nische entsteht. Aber Begeisterung oder auch Abscheu kann ich mir nicht wegdenken. Ich habe, glaube ich, noch nie über einen Film geschrieben, den ich so okay oder „ganz gut“ fand. Das will ich dann auch nicht schreiben. Anspruchsvoller ist das Loblied, weil es möglichst etwas mehr kommunizieren sollte als das permanente Wiederholen des Wortes „toll“. Die Artikulation von Abscheu gehört auch zum Fantum. Wenn ich Fan von einem Genre bin, das mir von einem bestimmten Film besonders schlecht bedient scheint. Ich finde Kunst, die sich mit Sex beschäftigt, erst mal gut. Ich finde Science-Fiction gut. Also war ich zu Fifty Shades of Grey und Ad Astra besonders gemein. Ich brauche einfach den starken Affekt. Im Feuilleton der FAZ ist die Gruppe derer, die Affekte für etwas für Minderbemittelte halten, mittlerweile sehr klein. Diese Studienratsmenschen gibt es kaum noch, weshalb die Toleranz für mich eher hoch ist. Im Feuilleton. Im Laden insgesamt mögen es vielleicht eher die Jüngeren. Wobei ich denjenigen, die so alt sind wie ich, schlicht zu jung bin. Kindlich oder sowas.

© Universal Pictures
© Universal Pictures

In dem Interviewbuch „Alles fragen, nichts fürchten“, das Sie mit Martin Hatzius gemacht haben, schwärmen Sie von der FAZ, weil – etwa im Gegensatz zur SPEX – alle irgendwie gut bis sehr gut sind, in dem, was sie tun und wissen. Andererseits erinnere ich eine Anekdote aus der Anfangszeit, als Sie in der Kantine Zeuge wurden, dass abfällig über Sie gesprochen wurde.

Dath: „Schirrmachers bolschewistischer Raketenspinner“, genau. Das waren Leute aus dem Politikressort. Inzwischen habe ich da aber auch nette Leute kennengelernt. Das ist dann das Popkultur-Virus. Da sitzt jemand in der Politik, hat aber trotzdem einen tollen Musikgeschmack. Darüber läuft das dann. Was vom Hatzius-Buch, das sich ja meiner ersten FAZ-Zeit widmet, immer noch gilt, ist die Tatsache, dass hier, anders als im Kulturbetrieb üblich, weniger Leute arbeiten, die einfach so reingerutscht sind. Es gibt diesen Typus von Leuten, die über Platten und Filme schreiben, weil das einfacher ist als jeder andere Job. Die kann ich als Personen schwer ab und deren Texte geben mir auch nichts. Das ist bei der FAZ sehr selten, dass man zum Feuilleton geht, um sich nicht überraschen zu lassen, mit nichts zu konfrontieren und nie anderen Menschen zu begegnen, die nicht so sind wie man selbst. Diese Scheu vor Herausforderungen gibt es hier nicht. Es sind Top-Leute insofern, als sie es sich nicht leicht machen. Was meine Person angeht, so scheint zu gelten: Man gewöhnt sich an alles. Klar gab es anfangs Widerstände, zumal, wenn man wie ich aus einer Kultur kommt, die mit einem bestimmten Lifestyle verbunden ist. Wenn man nach einem Heavy-Metal-Konzert mal zwei, drei Tage schlecht hört. Ich erinnere mich an eine Dame, die von mir immer nur als „der Drogensüchtige“ gesprochen hat. Ohne konkreten Anlass, klar. So eine Art Revierverhalten. Aber das ist lange her. Es gibt eh Schlimmeres, als von Leuten nicht gemocht zu werden, mit denen man privat nichts zu tun haben wollen würde.

Nochmal zurück zur „Eiskönigin“! Mich hat diese Kritik als Außenstehender gleich mehrfach überrascht. Dass Sie überhaupt diesen Film besprechen, dass Sie ihn toll finden, dass Sie diesen Fan-Enthusiasmus raushängen, dass die ausgewählten Filmausschnitte nicht ganz klarmachen, ob das Ganze jetzt ernst oder ironisch ist, weil das, was Sie zeigten, ja auch noch kindlich und „low“ war (jedenfalls im direkten Vergleich mit beispielsweise Godard oder Huillet/Straub), dass dann doch noch das ultimative Macht-Kapitalismus-Disney-Bashing folgt, um dies dann wiederum für den Film geltend zu machen, wenn Sie anmerken, dass so viel Macht nicht in der Lotterie gewonnen wird, sondern nur, weil man die besten Leute an Bord hat, die ihren Job wiederum mit Esprit befeuern. Die aber an einem anderen Ort, in anderen Zusammenhängen, eine ungleich bedeutsamere Arbeit machen könnten.

Dath: Genau das ist der Punkt! Sie könnten woanders, wo die Benutzeroberfläche komplexer ist, was Besseres machen. Sie haben gerade „kindlich“ gesagt, aber gerade darin, was Plot und Storytelling angeht, sind die beiden „Eiskönigin“-Filme sehr weit vom konventionellen Disney-Kosmos entfernt. Dafür wurde der erste Film in den USA auch scharf kritisiert, dass es eben nicht auf das Prinz-Prinzessin-Happy-End rausläuft. Aber Sie haben natürlich recht – verglichen mit Huillet/Straub oder Carlos Reygadas kann bei der „Eiskönigin“ auch ein Idiot die Oberfläche begrinsen. Die andere Sache ist aber: Wir stehen alle in Zusammenhängen. Die FAZ ist ja kein volkseigener Betrieb, sondern ein Teil des Systems des herrschenden Kapitalismus. Ich glaube nicht an die Möglichkeit, dieses System von draußen zu kritisieren. Das ist ja das, was Adorno suggeriert und in gewisser Weise durch die Entscheidung fürs Akademische auch realisiert hat. Wenn man aber – mein Vater, der alte FDP-Wähler, hätte gesagt – „in der freien Wirtschaft“ sein Kulturding machen will, dann bist du immer der Komplize von Scheiße. Das nicht zu vergessen und trotzdem zu versuchen, unter diesen Bedingungen den besten Film zu machen oder die beste Kritik zu schreiben, das wäre der moralisch-politische Impetus im ästhetischen Arbeiten. „Sie können was“, heißt nicht nur, dass sie ihr Handwerk beherrschen, sondern ich denke auch, dass sie ein paar Dinge wollen, die ich unterschreiben könnte. Das ist eine Position der Dissidenz. Nicht einverstanden zu sein mit dem, was ist, ist immer ein guter ästhetischer Impuls. So entstehen interessantere Songs und interessantere Filme. Einverstanden sein ist immer ein bisschen wie „Kenn ich schon“, „Weiß ich schon“, „Hör ich den ganzen Tag“. Ich glaube, dass ich mit den Leuten, die den „Terminator“ gemacht haben, einen interessanten Abend haben könnte. Vielleicht schreien wir uns am Ende an, aber…

"Die Eiskönigin 2" (© Walt Disney)
"Die Eiskönigin 2" (© Walt Disney)

Ich habe mal ein bisschen geblättert. Es ist nicht so, dass nur Verena Lueken und Dietmar Dath in der FAZ über Film schreiben. Da gibt es auch Andreas Kilb, Peter Körte, Bert Rebhandl oder Claudius Seidl. Interessante Typen mit sehr unterschiedlichen Präferenzen.

Dath: Absolut! Ich versuche zudem, diese interessante Gruppe durch Hinzuziehung neuer Leute noch interessanter zu machen. Zum Beispiel hat nach der produktiven Auseinandersetzung über „Joker“ Beatrice Behn etwas zum Jubiläum von „Schindlers Liste“ gemacht. Diese Möglichkeit eines Redakteurs, den Lesern einer Zeitung neue Leute zu präsentieren, gehört zu den positiven Seiten des Jobs. Macht Spaß!

Sie haben jüngst auch Geburtstagsartikel zu Ed Harris, Don Johnson oder Dario Argento publiziert. Sind das sedimentierte Seherfahrungen aus den 1980er-Jahren?

Dath: Einerseits: Absolut! Andererseits: nicht immer. Ein Beispiel: Don Johnson hat mir in einer ganz kleinen Rolle in Dragged Across Concrete sehr gefallen. Interessant gespielt und auch interessant gegen meine Erwartungen gespielt. Gegen seine Rollen früher. Dann fiel mir ein, dass er auch bei Tarantino war. Ich hatte drei Wochen Zeit. So eine Tageszeitung ist ja flexibel. Wenn jetzt am Geburtstag von Don Johnson Robert DeNiro sterben würde, wäre klar: Okay, kein Platz für Don Johnson. Insofern sind runde Geburtstage eine gute Gelegenheit, mal an einem Abend drei Filme zu gucken, so ein kleines Privat-Festival, weil man denkt, man müsse, dürfe, könne einen Geburtstagsartikel schreiben. Das ist dann das Äußerste an Filmseminar, was bei mir stattfindet.

Ich habe irgendwo einen Satz von Ihnen notiert, der mir sehr gut gefallen hat: „Dustin Hoffman verwandelt sich in irgendwas, weil Dustin Hoffman nichts kann, außer sich in irgendwas zu verwandeln.“

Dath: Ja, ich hasse ihn.

Ich auch. Aber gängige Münze ist doch, dass er gerade deshalb, weil er sich immer verwandelt, ein Genie ist. Schreien da Kolleg*innen nicht auf?

Dath: Ich bin dann halt jemand, der Kriterien reinbringt, die vielleicht nicht die akzeptierten sind, die man aber als Perspektivwechsel gelten lassen kann. Neulich hat mir Maria Wiesner, die in der FAZ ja auch Filmkritiken schreibt, Keanu Reeves porträtiert. Ich fand den vorher superscheiße uninteressant, aber sie argumentierte, dass ich mir mal einen der ersten beiden „John Wick“-Filme angucken solle, wie er da nichts macht und doch was macht. Und was macht die Regie, damit er Platz hat, nicht nichts zu machen? So etwas bringt mich auf Ideen und schärft meine Sinne. Diese zirkuspferdhafte Verwandelei von Dustin Hoffman ist ja zweigleisig. Erstens das Virtuose, und zweitens soll man nie vergessen, dass es gerade Dustin Hoffman ist, der sich da verwandelt. Mackenzie Davis, die die verbesserte Menschenfrau im „Terminator“-Film spielt, ist das genaue Gegenteil von Hoffman. Die braucht keinen Autismus oder Bart oder Haare-nach-hinten-Kamm. Die ist eher dieser Klaus-Kinski-Typ, der immer Klaus Kinski mit ans Set bringt, aber in jeder Rolle immer eine Seite von sich entdeckt, die dann speziell zu dieser Rolle passt. Das beeindruckt mich ungleich mehr als ein Schauspieler, der sich für einen Hungerfilm 20 Kilo runterhungert und das dann „method acting“ nennt. Es geht nicht um Anverwandlung oder Verkleidung, sondern um Textsprechen und Körpersprache. Eher altmodisch, theaterhaft. Es gibt eine „Black Mirror“-Folge, in der ich erst nach 40 Minuten gewahr wurde, dass ich gerade Mackenzie Davis bei der Arbeit zuschaue, obwohl ich Fan bin und obwohl sie so aussieht wie immer. Ich habe die ganze Zeit nur die Rolle, die sie spielt, gesehen. Nicht die Schauspielerin. Dit jefällt mir. Ganz naiv.

Mackenzie Davis in "Terminator: Dark Fate" (© Twentieth Century Fox)
Mackenzie Davis in "Terminator: Dark Fate" (© Twentieth Century Fox)

Leuchtet unmittelbar ein. Ich habe noch eine Sache gefunden in dem Buch „Heute keine Konferenz“. Da rezensieren Sie eines meiner Lieblingsbücher, nämlich Diedrich Diederichsens „Musikzimmer“. Sie schreiben: „Zu Zeiten, da so einer das noch sehen konnte, hieß er nicht Kritiker, sondern Aufklärer. Die sind lange vorbei. Aber was man jetzt tun muss, damit das, was seither schlechter wurde, nicht noch schlechter werde, erfährt man nicht von Kunst.“

Dath: Yo! Wusste nicht mehr, dass es so aufhört, würde es aber immer noch unterschreiben. Der Punkt ist ja: Aufklärer wie Diderot schreiben einerseits gesellschaftskritische Sachen, andererseits aber auch so sexy stuff zur Belustigung oder Unterhaltung. Ein Kontinuum. Viele Leute denken ja heutzutage, dass es schon unglaublich politisch ist, wenn man ein Twitter-Bild postet. Und das war es dann. Man kann auch im Stadion das sozialistische Lied singen, das hebt die Brust und lässt die Augen leuchten, bevor wir nach Hause gehen. Benjamin sagt ja über den Faschismus, dass die Menschen zu ihrem Ausdruck, aber nicht zu ihrem Recht kommen. Womit ich nichts gegen den Ausdruck sagen möchte, sonst würde ich mich nicht mit Ästhetik befassen. Aber Lösungen für die Scheiße, die wir gerade haben, sind ur-politisch. Dieser Unterschied muss wiederkommen. Es geht nicht darum, irgendwie das Richtige zu klicken, es geht tatsächlich darum, etwas zu machen. Versteht man, was ich meine?

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