Yorgos Lanthimos' Frankenstein-Variation
„Poor Things“ triumphierte beim 80. Filmfestival in Venedig als Gewinner des
„Goldenen Löwen“. Die Jury unter Damien Chazelle würdigte aber auch
herausragende Beiträge wie „The Green Border“ von Agnieszka Holland und „Evil Does
Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi. Das sind gute Entscheidungen in einem Jahr,
in dem das Festival als glamouröse Marketing-Maschinerie aufgrund des
Hollywoodstreiks zwar etwas stockte, als Filmkunst-Plattform aber wie gewohnt
strahlte.
Einmal die Welt sehen, als sähe man sie
zum ersten Mal – ohne Vorurteile, ohne vorgeformte Erwartungen, ohne den
anerzogenen Impuls, bei bestimmten Dingen lieber schamhaft wegzuschauen. Diese
Erfahrung beschert Yorgos Lanthimos’ fantastische Frankenstein-Variation „Poor Things“. Für knapp zweieinhalb Stunden folgt man Bella Baxter, einer
Frau, in deren Kopf ein exzentrischer Wissenschaftler das Gehirn eines
ungeborenen Babys eingepflanzt hat. Dadurch aber erlebt sie das große, schöne,
schreckliche Abenteuer, sich selbst, die anderen und die Welt mit allen Sinnen
zu erkunden – eine weibliche Heldenreise, in deren Verlauf sie zwar einiges von
ihrer kindlichen Naivität einbüßt, aber nie den Mut und den Willen, sich dem
Leben mit allem, was es zu bieten hat, auszusetzen. Und wehe den Männern, die
sich einbilden, ihr dabei Zügel anlegen zu können.
Beim 80. Filmfestival in Venedig eroberte Bella
Baxter damit die Herzen im Sturm; „Poor Things“, der in der Kritikergunst ganz
vorne stand, wurde auch von der internationalen Jury um Damien Chazelle mit dem
„Goldenen Löwen“ für den besten Film gekürt.
Das ist eine gute Entscheidung. Denn in
„Poor Things“ finden die schiere Lust am Spektakel und am Spekulativen, an der
sinnlichen Wirkmächtigkeit des Mediums Film und ein origineller Blick auf die „conditio
humana“ auf schönste Weise zusammen. Dass die Schauspielerin Emma Stone,
die Bella Baxter so wunderbar zum Leben erweckt, wegen des Streiks in Hollywood
nicht persönlich am Lido anwesend war, mag die Marketing-Maschinerie rund um
den Film ein paar glamouröse Rote-Teppich-Bilder gekostet haben;
nichtsdestotrotz dürfte sich das Festival in Venedig hier einmal mehr als eine
Art Orakel für die „Oscars“ bewährt haben.
"Oscar"-Aspiranten: Yorgos Lanthimos (l.), Emma Stone am Set von "Poor Things" (Disney)
An „Poor Things“ wird in der „Award
Season“ wohl schwerlich vorbeizukommen sein. Und auch eine Reihe andere
Wettbewerbsbeiträge der „Mostra“, etwa „Maestro“ von Bradley
Cooper „Maestro“, „Memory“ von Michel Franco oder Michael Manns „Ferrari“,
dürften bei den Nominierungen der „Academy Awards“ 2024 eine Rolle spielen.
Preise für einen überzeugenden Jahrgang
Auch die anderen Preisentscheidungen der Jury,
der neben Damien Chazelle Filmschaffende wie Mia Hansen-Løve, Jane Campion, Laura Poitras
und Martin McDonagh angehörten, sind eine angemessene Würdigung
eines überzeugenden Jahrgangs. Sehr erfreulich ist, dass mit der Auszeichnung
von Matteo Garrone „Io Capitano“ (beste Regie) sowie „The Green Border“ von Agnieszka Holland (Spezialpreis der Jury) zwei Filme geehrt
wurden, die sich an Krisenthemen der Gegenwart abarbeiten. Beide Filme kreisen
um die Flucht von Migranten nach Europa, wobei es bei „Green Border“ um die
Landroute über Belarus nach Polen, in „Io Capitano“ um die Route durch die
Sahara und übers Mittelmeer nach Italien geht.
Stilistisch schlagen beide Filme sehr
unterschiedliche Wege ein. „Green Border“, in Schwarz-Weiß gedreht, stellt
verschiedene Perspektiven, die der Flüchtenden, die von Grenzschützern und die
von polnischen Aktivisten, nebeneinander; „Io Capitano“ wählt dramaturgisch die
Form einer klassischen Abenteuer- und Coming-of-Age-Reise und versetzt die
Zuschauer sozusagen in die Schuhe eines Teenagers aus Dakar, der die Reise arg
blauäugig antritt und dann förmlich durch die Hölle geht.
Der Auftritt von Garrone und seinen
Darstellern bei der Preisverleihung, bei dem auch der junge Darsteller Seydou Sarr ausführlich zu Wort kam, gehörte zu den anrührendsten Momenten der
Gala und war ein klares Signal des Widerstands gegen die Politik der
rechtspopulistischen Regierung in Italien. Dass auch die Jury von SIGNIS, dem
katholischen Weltverband für Kommunikation, den Film mit seinem Preis
ehrte („als poetischer Mix von Realismus und Fantasie“ und als „wirkmächtiges
Porträt von menschlicher Zuversicht, Hoffnung und Liebe“) war nur konsequent.
Schönheit & Zerbrechlichkeit des Lebens
Mit dem „Großen Preis der Jury“ wurde „Evil Does Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi ausgezeichnet, der auch die Filmkritiker-Jury
überzeugte und mit dem FIPRESCI-Preis geehrt wurde. Ein thematisch gewichtiger,
stilistisch aber ganz unprätenziöser, leiser Film über den Umgang mit der
Natur, festgemacht an Menschen in einer kleinen, ländlichen Gemeinde nicht
allzu weit von Tokio, die sich gegen ein potenziell umweltschädliches
Tourismus-Projekt zu Wehr setzen. Der Film macht daraus aber keinen konventionellen
Öko-Thriller, sondern eine eindringlich-sanfte Reflexion über die Schönheit und
Fragilität eines Lebens im Gleichgewicht mit der Natur.
Großer Preis der Jury für "Evil Does Not Exist" (2023 Neopa/Fictive)
Bei der Wahl der Darsteller:innen-Preise hatte es die
internationale Jury besonders schwer. Den einen überragenden Auftritt wie 2022
von Cate Blanchett in „Tár“ gab es in diesem Jahr nicht, dafür aber
viele preiswürdige Leistungen. So brillierte Małgorzata Hajewska-Krzysztofik in „Woman Of“ von Michal Englert und
Malgorzata Szumowska als eine Frau, die im Körper eines Mannes zur Welt
gekommen ist und sich erst erst in einem ein halbes Leben hinziehenden Prozess dazu
durchringt, diese Identität offen zu leben. Dafür hätte sie durchaus eine
Auszeichnung verdient, ebenso wie Emma Stone für „Poor Things“. Gleiches gilt für Franz Rogowski, der mit einer
Tour de Force als Titelfigur in Giorgio Dirittis „Lubo“
begeistert. Der Film kreist um einen Mann aus der Volksgruppe der Jenischen,
der 1939 zur Schweizer Armee eingezogen wird. Als die Behörden seine Kinder wegnehmen,
desertiert er und macht sich auf eine lange, schmerzhafte Suche nach seiner
versprengten Familie. Rogowski meistert die nicht nur sprachlich, sondern auch
in ihrer Vielschichtigkeit höchst anspruchsvolle Rolle glänzend.
Dass die Jury sich für Cailee Spaeny als
Titelfigur in „Priscilla“ von Sofia Coppola und Peter Sarsgaard
in „Memory“ von Michel Franco entschied, lässt sich ebenso nachvollziehen. Spaeny arbeitet
in ihrer Verkörperung von Priscilla Presley sanft, aber nachtrüglich heraus,
welchen Preis die Frau im Schatten des „Kings“ für ihre Liebe zahlte, die als
romantischer Mädchentraum begann, aber mehr und mehr zum beklemmenden Albtraum wurde.
Peter Sarsgaard überzeugt in dem Melodram „Memory“
als Mann, der durch eine heimtückische Form von Demenz seine Erinnerungen und
damit langsam auch die Kontrolle über sein Leben verliert. Halt findet seine
Figur dann ausgerechnet bei einer Frau, die ihrerseits von Erinnerungen an
Dinge niedergedrückt wird, die zu tiefe Wunden hinterlassen haben, um sie zu
vergessen – ebenfalls preiswürdig verkörpert von Jessica Chastain.
Einziger Wermutstropfen der Preisverleihung war,
dass der ebenso originelle wie stilistisch ambitionierte Beitrag „Die Theorie von allem“ von Timm Kröger leer ausging. Der Film spielt in den
1960er-Jahren in den Schweizer Alpen und erzählt von mysteriösen Vorfällen bei
einem Physiker-Kongress, einem Todesfall, einer rätselhaften Frau und der
Multiversums-Theorie. Bleibt zu hoffen, dass trotzdem genug Lido-Glanz auf den
Film gefallen ist, um ihm beim Kinostart viele interessierte Zuschauer und
Zuschauerinnen zu bescheren.
"Die Theorie von allem" von Timm Kröger (Neue Visionen)