© imago/Independent Photo (Yorgos Lanthimos mit dem "Goldenen Löwen" für "Poor Things")

„Goldener Löwe“ für „Poor Things“

Ein Resümée der 80. Filmfestspiele in Venedig, bei denen „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos den „Goldenen Löwen“ gewann

Veröffentlicht am
21. September 2023
Diskussion
Yorgos Lanthimos' Frankenstein-Variation „Poor Things“ triumphierte beim 80. Filmfestival in Venedig als Gewinner des „Goldenen Löwen“. Die Jury unter Damien Chazelle würdigte aber auch herausragende Beiträge wie „The Green Border“ von Agnieszka Holland und „Evil Does Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi. Das sind gute Entscheidungen in einem Jahr, in dem das Festival als glamouröse Marketing-Maschinerie aufgrund des Hollywoodstreiks zwar etwas stockte, als Filmkunst-Plattform aber wie gewohnt strahlte.



Einmal die Welt sehen, als sähe man sie zum ersten Mal – ohne Vorurteile, ohne vorgeformte Erwartungen, ohne den anerzogenen Impuls, bei bestimmten Dingen lieber schamhaft wegzuschauen. Diese Erfahrung beschert Yorgos Lanthimos’ fantastische Frankenstein-Variation „Poor Things“. Für knapp zweieinhalb Stunden folgt man Bella Baxter, einer Frau, in deren Kopf ein exzentrischer Wissenschaftler das Gehirn eines ungeborenen Babys eingepflanzt hat. Dadurch aber erlebt sie das große, schöne, schreckliche Abenteuer, sich selbst, die anderen und die Welt mit allen Sinnen zu erkunden – eine weibliche Heldenreise, in deren Verlauf sie zwar einiges von ihrer kindlichen Naivität einbüßt, aber nie den Mut und den Willen, sich dem Leben mit allem, was es zu bieten hat, auszusetzen. Und wehe den Männern, die sich einbilden, ihr dabei Zügel anlegen zu können.


Das könnte Sie auch interessieren


Beim 80. Filmfestival in Venedig eroberte Bella Baxter damit die Herzen im Sturm; „Poor Things“, der in der Kritikergunst ganz vorne stand, wurde auch von der internationalen Jury um Damien Chazelle mit dem „Goldenen Löwen“ für den besten Film gekürt.

Das ist eine gute Entscheidung. Denn in „Poor Things“ finden die schiere Lust am Spektakel und am Spekulativen, an der sinnlichen Wirkmächtigkeit des Mediums Film und ein origineller Blick auf die „conditio humana“ auf schönste Weise zusammen. Dass die Schauspielerin Emma Stone, die Bella Baxter so wunderbar zum Leben erweckt, wegen des Streiks in Hollywood nicht persönlich am Lido anwesend war, mag die Marketing-Maschinerie rund um den Film ein paar glamouröse Rote-Teppich-Bilder gekostet haben; nichtsdestotrotz dürfte sich das Festival in Venedig hier einmal mehr als eine Art Orakel für die „Oscars“ bewährt haben.

"Oscar"-Aspiranten: Yorgos Lanthimos (l.), Emma Stone am Set von "Poor Things" (Disney)
"Oscar"-Aspiranten: Yorgos Lanthimos (l.), Emma Stone am Set von "Poor Things" (Disney)

An „Poor Things“ wird in der „Award Season“ wohl schwerlich vorbeizukommen sein. Und auch eine Reihe andere Wettbewerbsbeiträge der „Mostra“, etwa „Maestro“ von Bradley Cooper „Maestro“, „Memory“ von Michel Franco oder Michael Manns „Ferrari“, dürften bei den Nominierungen der „Academy Awards“ 2024 eine Rolle spielen.


Preise für einen überzeugenden Jahrgang

Auch die anderen Preisentscheidungen der Jury, der neben Damien Chazelle Filmschaffende wie Mia Hansen-Løve, Jane Campion, Laura Poitras und Martin McDonagh angehörten, sind eine angemessene Würdigung eines überzeugenden Jahrgangs. Sehr erfreulich ist, dass mit der Auszeichnung von Matteo Garrone „Io Capitano“ (beste Regie) sowie „The Green Border“ von Agnieszka Holland (Spezialpreis der Jury) zwei Filme geehrt wurden, die sich an Krisenthemen der Gegenwart abarbeiten. Beide Filme kreisen um die Flucht von Migranten nach Europa, wobei es bei „Green Border“ um die Landroute über Belarus nach Polen, in „Io Capitano“ um die Route durch die Sahara und übers Mittelmeer nach Italien geht.

Stilistisch schlagen beide Filme sehr unterschiedliche Wege ein. „Green Border“, in Schwarz-Weiß gedreht, stellt verschiedene Perspektiven, die der Flüchtenden, die von Grenzschützern und die von polnischen Aktivisten, nebeneinander; „Io Capitano“ wählt dramaturgisch die Form einer klassischen Abenteuer- und Coming-of-Age-Reise und versetzt die Zuschauer sozusagen in die Schuhe eines Teenagers aus Dakar, der die Reise arg blauäugig antritt und dann förmlich durch die Hölle geht.

Der Auftritt von Garrone und seinen Darstellern bei der Preisverleihung, bei dem auch der junge Darsteller Seydou Sarr ausführlich zu Wort kam, gehörte zu den anrührendsten Momenten der Gala und war ein klares Signal des Widerstands gegen die Politik der rechtspopulistischen Regierung in Italien. Dass auch die Jury von SIGNIS, dem katholischen Weltverband für Kommunikation, den Film mit seinem Preis ehrte („als poetischer Mix von Realismus und Fantasie“ und als „wirkmächtiges Porträt von menschlicher Zuversicht, Hoffnung und Liebe“) war nur konsequent.


Schönheit & Zerbrechlichkeit des Lebens

Mit dem „Großen Preis der Jury“ wurde „Evil Does Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi ausgezeichnet, der auch die Filmkritiker-Jury überzeugte und mit dem FIPRESCI-Preis geehrt wurde. Ein thematisch gewichtiger, stilistisch aber ganz unprätenziöser, leiser Film über den Umgang mit der Natur, festgemacht an Menschen in einer kleinen, ländlichen Gemeinde nicht allzu weit von Tokio, die sich gegen ein potenziell umweltschädliches Tourismus-Projekt zu Wehr setzen. Der Film macht daraus aber keinen konventionellen Öko-Thriller, sondern eine eindringlich-sanfte Reflexion über die Schönheit und Fragilität eines Lebens im Gleichgewicht mit der Natur.

Großer Preis der Jury für "Evil Does Not Exist" (2023 Neopa/Fictive)
Großer Preis der Jury für "Evil Does Not Exist" (2023 Neopa/Fictive)

Bei der Wahl der Darsteller:innen-Preise hatte es die internationale Jury besonders schwer. Den einen überragenden Auftritt wie 2022 von Cate Blanchett in „Tár“ gab es in diesem Jahr nicht, dafür aber viele preiswürdige Leistungen. So brillierte Małgorzata Hajewska-Krzysztofik in „Woman Of“ von Michal Englert und Malgorzata Szumowska als eine Frau, die im Körper eines Mannes zur Welt gekommen ist und sich erst erst in einem ein halbes Leben hinziehenden Prozess dazu durchringt, diese Identität offen zu leben. Dafür hätte sie durchaus eine Auszeichnung verdient, ebenso wie Emma Stone für „Poor Things“. Gleiches gilt für Franz Rogowski, der mit einer Tour de Force als Titelfigur in Giorgio Dirittis „Lubo“ begeistert. Der Film kreist um einen Mann aus der Volksgruppe der Jenischen, der 1939 zur Schweizer Armee eingezogen wird. Als die Behörden seine Kinder wegnehmen, desertiert er und macht sich auf eine lange, schmerzhafte Suche nach seiner versprengten Familie. Rogowski meistert die nicht nur sprachlich, sondern auch in ihrer Vielschichtigkeit höchst anspruchsvolle Rolle glänzend.

Dass die Jury sich für Cailee Spaeny als Titelfigur in „Priscilla“ von Sofia Coppola und Peter Sarsgaard in „Memory“ von Michel Franco entschied, lässt sich ebenso nachvollziehen. Spaeny arbeitet in ihrer Verkörperung von Priscilla Presley sanft, aber nachtrüglich heraus, welchen Preis die Frau im Schatten des „Kings“ für ihre Liebe zahlte, die als romantischer Mädchentraum begann, aber mehr und mehr zum beklemmenden Albtraum wurde. Peter Sarsgaard überzeugt in dem Melodram „Memory“ als Mann, der durch eine heimtückische Form von Demenz seine Erinnerungen und damit langsam auch die Kontrolle über sein Leben verliert. Halt findet seine Figur dann ausgerechnet bei einer Frau, die ihrerseits von Erinnerungen an Dinge niedergedrückt wird, die zu tiefe Wunden hinterlassen haben, um sie zu vergessen – ebenfalls preiswürdig verkörpert von Jessica Chastain.

Einziger Wermutstropfen der Preisverleihung war, dass der ebenso originelle wie stilistisch ambitionierte Beitrag „Die Theorie von allem“ von Timm Kröger leer ausging. Der Film spielt in den 1960er-Jahren in den Schweizer Alpen und erzählt von mysteriösen Vorfällen bei einem Physiker-Kongress, einem Todesfall, einer rätselhaften Frau und der Multiversums-Theorie. Bleibt zu hoffen, dass trotzdem genug Lido-Glanz auf den Film gefallen ist, um ihm beim Kinostart viele interessierte Zuschauer und Zuschauerinnen zu bescheren.

"Die Theorie von allem" von Timm Kröger (Neue Visionen)
"Die Theorie von allem" von Timm Kröger (Neue Visionen)

Die Preise der 80. „Mostra“ im Überblick

Goldener Löwe: „Poor Things“ von Yorgos Lanthimos

Großer Preis der Jury: „Evil Does Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi

Beste Regie: Matteo Garrone für „Io Capitano“

Spezialpreis der Jury: „The Green Border“ von Agnieszka Holland

Bestes Drehbuch: Guillermo Calderón & Pablo Larraín für „El Conde“

Beste Schauspielerin: Cailee Spaeny für „Priscilla“

Bester Schauspieler: Peter Sarsgaard für „Memory“

Best Young Actor Award: Seydou Sarr für „Io Capitano“

FIPRESCI-Preis: „Evil Does Not Exist“ von Ryusuke Hamaguchi

SIGNIS-Preis: „Io Capitano“ von Matteo Garrone

Kommentar verfassen

Kommentieren