Literaturverfilmung | Frankreich 2019 | 117 Minuten

Regie: Dominik Moll

Im tiefen Winter wird im französischen Zentralmassiv das Auto einer Frau entdeckt, sie selbst ist spurlos verschwunden. In fünf Kapiteln entfalten sich aus unterschiedlichen Perspektiven die gewaltsamen Umstände hinter dem rätselhaften Vorfall, in den Menschen aus der unmittelbaren Umgebung des Opfers involviert sind, der aber auch Kreise bis nach Westafrika zieht. Ein kunstvoll aufgebauter Thriller, der erst nach und nach preisgibt, welche Verwicklungen und Missverständnisse die für mehrere Figuren fatale Entwicklung herbeigeführt haben. Dabei wandelt er sich fast unmerklich zu einem Drama über fehlerhafte Kommunikation mit markanten Porträts der Einsamkeit und der Suche nach Zuneigung und Wärme. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
SEULES LES BÊTES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Haut et Court/Razor Film Prod./France 3 Cinéma
Regie
Dominik Moll
Buch
Gilles Marchand · Dominik Moll
Kamera
Patrick Ghiringhelli
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Laurent Rouan
Darsteller
Denis Ménochet (Michel Farange) · Laure Calamy (Alice Farange) · Damien Bonnard (Joseph Bonnefille) · Nadia Tereszkiewicz (Marion) · Bastien Bouillon (Polizist Cédric Vigier)
Länge
117 Minuten
Kinostart
07.10.2021
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Literaturverfilmung | Thriller
Externe Links
IMDb | TMDB

Kunstvoll aufgebauter Thriller, der aus verschiedenen Perspektiven die Wahrheit über das Verschwinden einer Frau im französischen Zentralmassiv enthüllt.

Diskussion

Huckepack fährt die Ziege durch den dichten Verkehr von Abidjan. Festgeschnallt auf den Schultern eines Mopedfahrers, wird das Horntier zwischen Autos und anderen Verkehrsteilnehmern hindurchbugsiert, bis es über die engen Gassen zwischen den Häusern ans Ziel des Chauffeurs gelangt: Ein dunkler Hausflur mit einer Wohnung, die nur auf das richtige Codewort hin geöffnet wird, und wo der Ziege voraussichtlich ein wenig angenehmes Schicksal droht.

Mit diesem enigmatischen Prolog beginnt Dominik Moll seinen Film „Die Verschwundene“, um sodann zum größtmöglichen Kontrast zu sandfarbener Palette und Wimmelbild-Charakter der westafrikanischen Metropole zu wechseln: Der menschenleeren Schneelandschaft des tiefwinterlichen französischen Zentralmassivs, die nur an wenigen Stellen von menschlichen Spuren unterbrochen wird. Auch hier sind es Tiere, die ins Bild rücken, sie ersetzen den Kontakt zwischen den Menschen, die nicht mehr miteinander reden. „Ich spreche nur mit meinen Schafen und mit meinem Hund“, wird einer der Bergbewohner bald erklären und damit die Distanz zur übrigen Menschheit zur Lebenshaltung erheben. Die Tiere freilich sind keine echten Trostspender in der Einsamkeit und werden in erster Linie zu stummen Zeugen der menschlichen Verfehlungen.

Ein Beziehungsdreieck mit verhärteten Fronten

Und zu beobachten gibt es einiges in dem komplex aufgebauten Thriller nach dem Roman „Nur die Tiere“ von Colin Niel. Vorlage wie Film spannen das Geschehen nacheinander aus fünf unterschiedlichen Perspektiven auf, die sich nur für den Zuschauer zum Gesamtbild zusammenfügen, während die Figuren über viele Vorkommnisse im Dunkeln bleiben. So nimmt der Film als erstes die Sicht der Bauernfrau und Sozialarbeiterin Alice ein, die sich in den Bergen um die Versicherungsbelange der Bewohner kümmert und auch auf menschliche Berührung aus ist. Von dem verschlossenen, um seine verstorbene Mutter trauernden Joseph wird sie jedoch ebenso abgewehrt wie von ihrem Mann Michel, der seine Zeit im Kuhstall vor dem Computer verbringt.

Nur am Rande nimmt Alice wahr, dass Evelyne Ducat, eine Frau aus der Gegend, vermisst wird, denn sie wähnt sich inmitten eines Beziehungsdreiecks mit sich verhärtenden Fronten: Trotz klaren Hinweisen auf eine Gewalteskalation sind jedoch weder Joseph noch Michel bereit, sich ihr zu offenbaren – was auch heißen würde, Alices Irrtümer aufzudecken. Denn beide haben viel zu sehr Anteil am Verschwinden von Evelyne, als dass sie viele Gedanken an die Beziehung zu Alice verschwenden könnten.

Wie in seinem Kinodurchbruch „Harry meint es gut mit dir“ (2000) balanciert der deutsch-französische Regisseur Dominik Moll auch in „Die Verschwundene“ zwischen gekonnt geschürter Kriminalspannung und einer schwarzhumorigen Perspektive angesichts der Illusionen und Lebenslügen der Figuren – was eine intensive Anteilnahme an deren Schicksal keineswegs ausschließt. Denn mit jedem Kapitel, das auch zeitlich immer wieder einen Sprung zurück bedeutet, werden nicht nur neue Informationen über die gewaltsamen Umstände des Verschwindens von Evelyne Ducat preisgegeben, auch das Gesamtbild wird mit immer feineren Pinselstrichen gezeichnet.

Nach der Außenperspektive von Alice, die im Unklaren über die Wahrheit hinter den von ihr vermerkten seltsamen Gegebenheiten bleibt, verlagert sich der Blick des Films im zweiten Kapitel auf das Terrain, auf dem auch Alfred Hitchcocks „Psycho“ aufbaute, ohne allerdings dessen psychopathische Exzesse zu wiederholen. Beides sind im Grunde aber nur Vorspiele, die sich langsam auf das Verbrechen zutasten, dem der Film erst im dritten Teil mit der Einführung einer bis dahin noch nicht aufgetauchten Figur deutlich näherkommt. Neues Wissen über das Leben der Verschwundenen vermittelt sich hier, allerdings auch neue Rätsel, die erst in den beiden finalen Teilen aufgeklärt werden, wenn der Film einmal mehr das Ruder der Handlung herumreißt. Zwischen einem jungen Mann aus der Elfenbeinküste, der in Abidjan eine Internet-Betrugsmasche anleiert, und einem leichtgläubigen Einwohner des Zentralmassivs werden die Weichen für eine Entwicklung gestellt, die für mehrere der Figuren fatal sein wird.

Auf der Suche nach Zuneigung und Wärme

Fast unmerklich vollzieht der Film seine Wandlung vom Kriminalfilm zu einem Drama über fehlende, falsche und gefälschte Kommunikation. Dominik Moll widmet jedem Kapitel und damit auch jeder dort vorkommenden Sphäre dieselbe Aufmerksamkeit, sodass die winterliche Bauernwelt mit Steingut-Geschirr und spröden Pullovern ebenso detailreich Trostlosigkeit ausstrahlt wie die flirrende Halbwelt von Westafrika. Großen Anteil am gleichwertigen Erfolg aller Kapitel haben auch die exzellenten Darsteller, allen voran Laure Calamy, Denis Ménochet und Damien Bonnard. Sie, aber auch ihre jüngeren Schauspielkollegen, zeichnen durchweg markante Porträts der Einsamkeit und der Suche nach Zuneigung und Wärme. Die Distanz und die fehlende Sprachmächtigkeit zwischen den Figuren werden so auf bittere Weise glaubwürdig als Hauptgründe für deren Unglück und ihre immer weitere Verstrickung.

Das stellt „Die Verschwundene“ auch in die Tradition fatalistischer Dramen wie Alejandro González Iñárritus „Amores Perros“. Anders als dort lässt Moll allerdings immer die Möglichkeit offen, dass die Figuren ihr Schicksal durchaus beeinflussen könnten, wenn sie ihre selbstbezogenen Züge denn zurückschrauben und aufeinander zugehen würden. Indem sie sich weiter zurückziehen, tritt ihre Verletzlichkeit jedoch nur immer mehr zutage. Daher hat auch der Einsatz von Totalen und Vogelperspektive in „Die Verschwundene“ nichts vom Blickwinkel eines fernen, empathielosen Gottes, als die sie sonst oft im Kino verstanden werden. Hier stecken die Bilder voller Mitgefühl.

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