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Filmliteratur: Kino unter Druck

Im Alexander Verlag ist eine Essaysammlung über bemerkenswerte osteuropäische Filme erschienen

Veröffentlicht am
24. Januar 2023
Diskussion

Der Regisseur Dominik Graf und die Filmwissenschaftlerin Lisa Gotto widmen sich der Frage, wie Restriktionen und Regelungsdruck die Filmkultur beeinflussen. Der osteuropäische Film aus der Zeit des „Kalten Kriegs“ spielt dabei eine herausragende Rolle. Im Fokus stehen ausgewählte Filme aus der ehemaligen Tschechoslowakei sowie aus Ungarn und Polen, die aus Sicht der Autoren zu den schönsten und klügsten der Welt gehören.


Lisa Gotto, die als Professorin an der Universität Wien Theorie des Films unterrichtet, und der Autor und Regisseur Dominik Graf haben ein Büchlein herausgebracht, das ihrer gemeinsamen Begeisterung fürs osteuropäische Kino Ausdruck verleiht. Titel und Untertitel wirken zwar etwas brachial und erinnern mit dem Uraltbegriff „Eiserner Vorhang“ an den Tonfall des Kalten Krieges, aber vermutlich glaubte der Verlag, damit die Verkaufsträchtigkeit zu erhöhen. Die Inhalte der Essays und Porträts, vor allem auch der vorangestellte Dialog zwischen Gotto und Graf, sind dagegen wohltuend differenziert und rücken das Schlagwort vom „Kino unter Druck“ dann auch in richtige Zusammenhänge: Das Kino des realen Sozialismus in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei, um das es hier geht, war ja nicht ununterbrochenen politischen Repressalien ausgesetzt. Es erblühte vielmehr in einem Wechselspiel aus Eiszeiten und Tauwetterperioden; es konnte sich entfalten, weil das Personal der Kulturpolitik, nicht nur der Kunstszene selbst, aus Hardlinern und Reformatoren bestand. Der Druck, dem die Kunst unterlag, brachte schließlich genau jenen Gegendruck hervor, der manche Filme bis heute zu singulären Ereignissen der europäischen Kinematografie werden ließ.


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Dominik Graf schreibt über Filme von Männern: Andrzej Wajda, Zbyněk Brynych, Krzysztof Zanussi. Er greift dabei bisweilen auf Artikel zurück, die er bereits in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ oder in „Cargo“ veröffentlicht hat. Lisa Gotto reflektiert ausschließlich über Filme von Regisseurinnen, so von Agnieszka Holland, Věra Chytilová, Márta Mészáros, Judit Elek. Sicher ist eine solche Aufteilung gerade en vogue, sie sollte sich in der Filmgeschichtsschreibung aber bitte nicht einbürgern: Frauenblicke auf Männerfilme und umgedreht können ja auch sehr erhellend sein. Beide Beteiligte schlagen große Bögen, bringen politische Umfelder mit ins Spiel, blicken auch im Detail genau hin. Vor allem Lisa Gotto beschreibt penibel einzelne Kamerablicke und Figurenperspektiven und schlussfolgert daraus über Sinn und Zweck des jeweiligen Projekts. Es macht Spaß, der Kunst des filmischen Erzählens so minutiös folgen zu können. Noch mehr Spaß wäre freilich mit den Texten verbunden gewesen, hätte es eine Kooperation zwischen dem Verlag und einigen Rechteinhabern der vorgestellten Filme gegeben, die zu einem Band mit DVD-Beilage geführt hätte. „Text und Film“ – solche Kooperationen, die der internationale Filmbuchmarkt durchaus offeriert, erscheinen in Deutschland aber als nahezu unerfüllbare Utopie. Wie aber kommt man hierzulande an die so wunderbar beschriebenen Filme etwa von Judit Elek, an „Vielleicht morgen“ (1979) oder „Sommer der Leidenschaft“ (1984), die selbst Fachleuten fürs osteuropäische Kino nur wenig bekannt sind?

Judit Eleks filmische Kritik an einer unfähigen ungarischen Gesellschaft. (© goEast/"Vielleicht morgen" von Judit Elek)
Kritik an der ungarischen Gesellschaft: "Vielleicht morgen" (© goEast/Judit Elek)

Das Publikum als Zensor

Im aktuellen deutschen Filmbuchangebot ist, was Untersuchungen über die Filmkultur Osteuropas betrifft, „Kino unter Druck“ zum Glück kein Einzelfall mehr. Der Band ergänzt zum Beispiel die verdienstvollen Publikationen aus dem Schüren-Verlag zu einzelnen osteuropäischen Kinematografien, die in den vergangenen Jahren erschienen sind. „Kino unter Druck“ will allerdings nicht nur schlechthin auf fast vergessene Meisterwerke von dort hinweisen. Vor allem Dominik Graf bringt auch immer wieder die heutige deutsche Kino- und Fernsehlandschaft vergleichend ins Spiel und schreibt sich gewissermaßen seinen Zorn von der Seele.

In der „deutschen Gremienkultur“, so lautet sein Grundtenor, seien solche sowohl ästhetisch als auch politisch bedeutsamen Arbeiten wie die hier präsentierten so gut wie undenkbar. Die „Erwachsenheit“ dieser Filme, ihre Funktion als „Instrument der Wahrheitsfindung“, sei einer „Lüge und Pixel-Pinselei in der Postproduktion“ fast gewichen. Graf resümiert: „Unsere Gremien-Förder-Kinokultur basiert darauf, dem Publikum wenig zuzutrauen, es bloß nicht zu überfordern. Kinematographische Vielstimmigkeit von Sequenzen gelten (auch dem Publikum) als verwirrend; Ambivalenzen, Uneindeutigkeiten auch in privaten Konstellationen, etwa in Gender-Problemen der Filme werden den Machern sogar gefährlich. Das Publikum ist selbst zum Zensor geworden, es ist konditioniert auf ein Kino der Eindeutigkeit. Es ,cancelt‘, was ihm nicht sofort einsichtig erscheint.“

Dominik Graf lässt keine Zweifel, dass für ihn nur eine Radikalkur helfen könne – und weiß zugleich, dass es die nicht geben wird: „Um solche Tiefe im Kino zu verstehen, uns danach zu sehnen, müssten wir hier in Deutschland quasi von vorn anfangen. Und als Erstes schon mal alle deutschen Filmhochschulen schließen und mit ganz neuem Personal wieder aufbauen.“ Auch mit neuen Studierenden, denn: „Gutbürgerliche AbiturientInnen mit angemessen hohem Selbstbewusstsein und zu niedriger Frustrationstoleranz? Haben sie alle nichts erlebt? Oder regiert die Angst?“

Ein Pferd führt in "Lotna" die Sinnlosigkeit des Kriegs vor Augen. (© "Lotna" von Andrzej Wajda)
In "Lotna" führt ein Pferd die Sinnlosigkeit des Kriegs vor Augen (© Andrzej Wajda)

Verstörung ist nötig

Vielleicht wäre es ja schon ein kleiner Schritt, wenn einige der in diesem Buch skizzierten, in Sinn und Form wahrhaft revolutionären Filme in den Kanon der Ausbildung aufgenommen würde? Und in den Kanon unserer sogenannten Arthouse-Kinos. Arthouse muss ja nicht immer nur Wohlfühlkino sein; nein, Verstörung ist nötig. Oder sind die deutschen Zuschauer zu satt, um sich für verstörende Kinokunst, noch dazu aus vergangenen Jahrzehnten, zu interessieren?

Die Anregungen jedenfalls, die dieses Büchlein vermittelt, gehen weit über das bloße Interesse an den vorgestellten Filmen hinaus. Sie stellen den hiesigen Status quo infrage, wollen mit Hilfe des „Alten“ zu neuen Horizonten aufbrechen. Was kann ein Buch mehr?


Hinweis

Kino unter Druck. Filmkultur hinter dem Eisernen Vorhang. Von Lisa Gotto und Dominik Graf. Alexander Verlag Berlin 2021, 160 Seiten, mehrere Abb., 16,90 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.

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