© IMAGO / Mary Evans (aus "Deep Blue Sea")

Nachruf auf Terence Davies

Hier das Ich und dort die Welt - Nachruf auf den britischen Filmemacher Terence Davies (10.11.1945-7.10.2023)

Veröffentlicht am
29. November 2023
Diskussion

Das Werk des britischen Filmemachers Terence Davies ist schmal, aber reich. In den 1990ern wurde er mit Filmen wie „Das Ende eines langen Tages“ bekannt, in denen er seine Wurzeln als Arbeiterkind aus der Industriestadt Liverpool spiegelte; später wandte er sich in seinen Filmen oft der Literatur zu, bis hin zu den Biopics „A Quiet Passion“ über die Dichterin Emily Dickinson und „Benediction“ über Autor Siegfried Sassoon. Nun ist Davies im Alter von 77 Jahren verstorben – sein Werk aber verdient es, lebendig zu bleiben.


„Was kann dir dieser Freddy schon geben?”, wird Hester von ihrem Ehemann gefragt, der nicht fassen kann, dass seine Frau eine Affäre mit einem anderen Mann begonnen hat, noch dazu mit einem, mit dem sie mit ziemlicher Sicherheit keine Zukunft haben wird. Ihre Antwort: „Manchmal kann er mir schon etwas geben: sich selbst.“ In diesem Moment weiß man, dass das und nur das ausreicht, dass man nicht mehr verlangen, aber auch nicht mit weniger zufrieden sein darf in der Liebe. Denn genau darin liegt ihr Versprechen: Dass einem in ihrem Licht ein anderer Mensch, und sei es nur für einen Moment, und sei dieser Moment auch noch so flüchtig, als ganzer Mensch gegenübertritt, mit Haut und Haaren und ohne all die Verstellungen, Ausflüchte und Kompartmentalisierungen, die all den anderen Begegnungen, die unser Leben bestimmen, unweigerlich anhaften.


      Das könnte Sie auch interessieren:


Man denkt beim Name Terence Davies nicht unbedingt zuerst an Liebesfilme. Der Film, aus dem die beschriebene Szene stammt, „The Deep Blue Sea“ (2011), ist vermutlich der einzige, der dem Genre in einem konventionellen Sinn voll zuzurechnen ist. In einem erweiterten Sinn ist die Liebe jedoch in allen seinen Filmen präsent: als Utopie und zumeist unerreichter Sehnsuchtsort, als Ahnung und Abglanz eines abwesenden Glücks, das in den Bildern, Gedichten und vor allem Liedern der Vergangenheit mitklingt, seinen eigentlichen Ort jedoch in einer noch nicht realisierten Zukunft hat. Vielleicht ist das der Grund dafür, dass Davies’ Filme so obsessiv wie wenige andere in die Vergangenheit streben: Weil in ihr zumindest die Idee der Liebe aufbewahrt ist – und damit die Erinnerung an eine andere Zukunft. Davies’ Filme blicken nicht zurück, um herauszufinden, wie wir zu denen wurden, die wir sind; sondern um uns daran zu erinnern, dass die Welt und die Menschen in ihr immer schon größer und anders und reicher waren, als wir sie in unserem Alltag erleben.

"Deep Blue Sea" (© IMAGO/Mary Evans/AF Archive Film4)
"Deep Blue Sea" (© IMAGO/Mary Evans/AF Archive Film4)

Nun, da der Regisseur im Alter von 77 Jahren gestorben ist, möchte man mit seinen Filmen ebenso verfahren: nicht eingekapselt und musealisiert dürfen sie werden in einer besseren Vergangenheit des Kinos - vielmehr mögen sie einem zukünftigen Kino als nie versiegender Quell der Hoffnung dienen!


Die Welt eines Jungen aus der Arbeiterklasse

Die Vergangenheit als eine Welt mit offenem Horizont … das heißt zunächst: als eine Welt der Kindheit. Konkreter: als die Welt eines Jungen aus der Arbeiterklasse, der 1945 als zehntes von zehn Kindern in Liverpool geboren wird und dort, in der nordenglischen Hafen- und Industriestadt der 1950er-Jahre, in einer streng katholischen Familie aufwächst. In seinen frühen Filmen, insbesondere dem kurzen Debüt „Children“ (1976) und den beiden ersten Langfilmen „Entfernte Stimmen - Stilleben“ (1988) und „Das Ende eines langen Tages (1992) ist das alles bewahrt: das beengte Leben in Backsteinhäusern, das einem den Blick oft ganz buchstäblich verengt; abwesende Väter, überforderte Mütter, Kinder, die in der Schule geprügelt und ansonsten meist sich selbst überlassen werden; religiös eingefärbte Schuldkomplexe, die dafür sorgen, dass dem jungen Davies seine erwachende Homosexualität nur als Fluch erscheinen kann. Es ist da aber immer auch mehr: das selbstvergessene Lächeln der sich unbeobachtet glaubenden Mutter, der stolze Blick in die Kamera beim Familienfoto, Melodien, die, einmal angestimmt, von allen mitgesungen werden. Eine Welt, die jederzeit dazu bereit ist, sich durch ein wenig billigen Glitzerschmuck und durch die Straßen hallende Festtagslieder verzücken und verzaubern zu lassen.

"Entfernte Stimmen - Stillleben" (© IMAGO/BFI / Ronald Grant Archive / Mary Evans
"Entfernte Stimmen - Stillleben" (© IMAGO/BFI / Ronald Grant Archive / Mary Evans)

Mit 16 verlässt Davies die Schule, arbeitet zehn Jahre lang als ungelernter Buchhalter. Ein früher Film, „Madonna and Child“ (1980), ist dieser Zeit gewidmet. Es ist einer seiner düstersten – vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil er von allen der Gegenwart am nächsten kommt. Aber auch die Gegenbilder der Utopie waren nie handfester: Blowjobs und nackte, haarige Männerhintern als richtiges Leben im falschen. Mit Mitte zwanzig ein Wendepunkt: Davies besucht zunächst die Coventry Drama School, später die National Film School. Fortan steht sein Leben im Zeichen der Kunst.

Nach drei Kurzfilmen, die höchstpersönliche Erfahrungen in immer abstraktere, wagemutigere Zeitbilder übersetzen, folgen mit „Entfernte Stimmen - Stilleben“ und „Das Ende eines langen Tages zwei Instantklassiker des britischen Kinos: collagenhaft, mithilfe waghalsiger Ellipsen und Verdichtungen, erwecken sie ein Arbeiterklasse-England zum Leben, das es nie gegeben hat, und in dem doch jedes Bild wahr ist. Hybride Geschichtsbilderbücher, die in ihrer intertextuellen Fülle dem wohlsortierten Historienkino Hohn sprechen, ihrem emotionalen Gehalt nach jedoch näher an Proust sind als an Godard. In Stimmung und Tonfall unterscheiden sich die beiden Filme enorm. „Entfernte Stimmen - Stilleben“ evoziert den Blick des Kindes, das zu den Erwachsenen heraufblickt, neugierig, aber auch angsterfüllt, überfordert von einer Welt, die es nicht versteht und in die es doch offensichtlich hineinwachsen soll.

Am Ende eines langen Tages“ ist dann der retroutopische Komplementärfilm: die Zauberwelt eines Kindes, das sich, allen Zwängen seiner Umwelt zum Trotz, eine eigene Wirklichkeit erschafft.

"Am Ende eines langen Tages" (  © IMAGO/Ronald Grant
"Am Ende eines langen Tages" ( © IMAGO/Ronald Grant

Die letzte, größte Utopie: die Liebe

Mit „The Neon Bible“ (1995) beginnt dann etwas Neues. Zu Unrecht gelegentlich als ungeliebtes Stiefkind der Filmografie gebrandmarkt, wagt der Film den Bruch mit Themen und Kontexten des Frühwerks: Davies dreht in Amerika, mit Stars, und denkt seinen Film zum ersten Mal von der Erzählung her, die einen Roman John Kennedy Tooles adaptiert. Die Wendung hin zur Literatur prägt auch das weitere Werk. Drei weitere Romanverfilmungen sowie zwei Dichter:innenporträts sind danach entstanden, weitere Projekte in diese Richtung, unter anderem eine Stefan-Zweig-Adaption, waren bis zuletzt in Planung. Zweifellos war Davies mindestens ebenso sehr ein Mann der Literatur wie ein Mann des Kinos.

Die Differenz zum Frühwerk lässt sich dennoch auf einer anderen Ebene deutlicher fassen: Was sich verändert hat, ist das Verhältnis von innen und außen. In den Liverpool-Filmen durchdringt sich beides gegenseitig, der eigene, noch kindlich-verletzliche Körper ist nicht in der Lage, sich von der ihn umgebenden Welt abzugrenzen, und die Welt selbst erscheint umgekehrt bis zu einem gewissen Grad als formbar, oder vielleicht gar als etwas bereits (für einen) Geformtes; als Nest, und wenn es auch noch so piekst. In den späteren Filmen dagegen ist die Verbindung gekappt: hier das Ich und dort die Welt, und es kann fortan nur noch darum gehen, ersterem einen wie auch immer prekären Spielraum in letzterer zu erkämpfen. Was darüber hinaus noch bleibt, ist, siehe oben, die letzte, größte Utopie: die Liebe.

Terence Davies’ Kino hat sich verändert und ist dasselbe geblieben. Weil es im Kern stets, in den Assoziationsmontagen des Frühwerks wie in den figurenzentrierten Investigationen des Spätwerks, um Begegnungen geht, in denen das Fließen der Zeit momenthaft stillgestellt wird, in Tonbildern, die alle lebensweltlichen und historischen Kontexte aufsprengen. Das apokalyptische Röcheln des sterbenden Großvaters in „Death and Transfiguration“ (1983) - Teil seiner "Trilogie eines Lebens" - lässt einen genauso wenig wieder los wie die radikale Weltflucht der Dichterin Emily Dickinson im meisterlichen Biopic „A Quiet Passion“ (2016). Letztlich zeichnet die Bewegung von den Liverpooler Arbeitervierteln zu Reflexionen über bürgerliche Autonomie und die Einsamkeit der Kunst exakt den Weg nach, den Davies selbst in seinem Leben gegangen ist. Der Regisseur bestand stets darauf, dass „A Quiet Passion“ und auch sein letzter, dem britischen Dichter Siegfried Sassoon gewidmeter Spielfilm „Benediction“ (2021), genauso autobiografisch sind wie die Liverpool-Filme der 1970er- bis 1990er-Jahre.

"A Quiet Passion" (© Studio Hamburg)
"A Quiet Passion" (© Studio Hamburg)

Schon viel ist geschrieben worden über die Steine, die ihm, dem Kritikerliebling ohne Rückhalt im Betrieb, immer wieder in den Weg gelegt wurden, über die vielen abgebrochenen Projekte, die unfreiwilligen langen Pausen zwischen den Filmen. All das soll nach seinem Tod nicht vergessen werden; aber es darf auch nicht dazu führen, dass Davies als ein unvollendeter Künstler erinnert wird. Das Werk, bestehend aus fünf kurzen und neun langen Filmen, ist schmaler, als es hätte sein können und sollen, klar; und doch ist es in sich rund und reich wie kaum ein zweites. Das Ungefilmte schmerzt, aber es fehlt nicht. Deshalb hier zum schweren Stand des Regisseurs im Kulturbetrieb nur so viel: Einer, der so aufwächst, wie Davies aufgewachsen ist, wird normalerweise nicht Filmregisseur. Heute schon gar nicht, aber auch nicht in der Hochphase des europäischen Autorenfilms, während der er seine ersten Schritte in Richtung Kino unternahm. Einer, der sich zeitlebens an der tiefen Prägung durch die Working-Class-Herkunft abarbeitete, ohne sie jedoch jemals Kitchen-Sink-mäßig auszustellen und als Authentizitätsattribut für sich nutzbar zu machen, so einer ist wohl dazu verurteilt, Außenseiter zu bleiben; im reiche-weiße-Männer-Club des Kinos der Vergangenheit genauso wie in der inklusionsseligen, identitätsfixierten Gegenwart.


Ein Alien in seinem eigenen Land

Zur Opferrolle taugt Davies ohnehin nicht. Das Nichtdazugehören ist immer auch ein Ehrentitel. Kaum jemand sprach, jedes einzelne seiner vielen Interviews kann das belegen, so geistreich, so ironie- und selbstbewusst über das eigene Werk und seinen Blick auf die Welt. Der mal staubtrockene, mal spielerisch-queere Davies’sche Humor steckt in allen seinen Filmen; ganz besonders viel davon steckt in „Of Time and the City (2008): eine letzte Rückkehr in die Welt der Kindheit, eine dokumentarische Hommage an sein geliebtes Liverpool und gleichzeitig eine launisch-wortgewaltige Selbsterklärung. Wenn die kulturelle Moderne ihn schmäht, dann beruht das, lernen wir, auf Gegenseitigkeit. Davies’ Welt, das sind die sentimentalen Schlager der 1950er-Jahre, die Hochsteckfrisuren und die an Cocktailkleider gehefteten Rosen, die ein bisschen Glamour in den staubigen Alltag bringen, nicht zuletzt natürlich die Hollywoodfilme: Musicals, Melodramen und Western vor allem, Visionen der Harmonie, dem Schmerz abgerungen. Seine fürs BFI erstellte Liste der besten Filme aller Zeiten enthält ausschließlich amerikanisches und britisches Unterhaltungskino der späten 1940er- bis frühen 1960er-Jahre. Warum hat er „Picknick im Pyjama“ (1957) aufgenommen? „Because Doris Day is in it!“

Terence Davies (© IMAGO/agefotostock/Maria Laura Antonelli)
Terence Davies (© IMAGO/agefotostock/Maria Laura Antonelli)

Kurzum: die Bilder und Töne der Kindheit als ein Paradies, neben dem nichts bestehen kann. Der frühe Rock’n’Roll, der in den späten 1950er-Jahren britische Arbeitermädchen in ihren altmodischen Glitzerkleidern verzückte, findet noch Eingang ins Davies-Universum. Aber ausgerechnet der größte Exportschlager seiner Geburtsstadt markiert eine Zäsur. Das vulgär herausgeplärrte „Yeah Yeah Yeah“ der Beatles und ihres Mersey Beat ist schuld daran, stellt Davies in „Of Time and the City“ klar, dass er sich ab den 1960er-Jahren nicht mehr für populäre Musik interessiert. Man darf das wohl auf das moderne Kulturschaffen insgesamt ausdehnen. Als ein „Alien in seinem eigenen Land“ bezeichnet er sich später im Film – und blickt doch neugierig auf die feiernden Jugendlichen des gegenwärtigen Liverpooler Nachtlebens.

Davies war kein Kulturpessimist, zumindest nicht im politischen Sinn. Wo uns Ideologien von rechts wie links einbläuen, dass wir von dieser oder jener Saubande ums gute Leben betrogen werden, zeigen seine Filme: es ist das unbarmherzige Vergehen der Zeit selbst, das zu unserem Unglück wird – und gleichzeitig zu unserer Rettung! Denn nur, weil die Zeit voranschreitet, ist es möglich, ihr zu entfliehen und in derselben Bewegung wieder in sie einzutauchen. Die absolute Gegenwart wäre die Hölle. Ihr Gegenteil ist die Kunst.

Kommentar verfassen

Kommentieren