© Tobis Film (aus „Morgen ist auch noch ein Tag“)

Für eine sonnige Zukunft - Der Boom des Kinos in Italien

Dank einheimischer Hits wie „Morgen ist auch noch ein Tag“ erlebt Italien aktuell einen Kino-Boom

Veröffentlicht am
25. April 2024
Diskussion

In Deutschland haben die Folgen der Corona-Zeit die ohnehin schwierige Lage für Kinofilme noch einmal verschärft. Ganz anders in Italien: Dort kommt es seit einem Jahr zu einem regelrechten Kino-Boom. Dafür ist nicht nur der sensationelle Erfolg der Tragikomödie „Morgen ist auch noch ein Tag“ verantwortlich. Italienische Filme machten 2023 im eigenen Land insgesamt einen Marktanteil von 26 Prozent aus. Die Gründe dafür sind vielfältig, könnten in Deutschland aber durchaus als Vorbild dienen.


In Deutschland schließen im Sommer die Theater. Das war auch in Italien so, wo früher im Hochsommer viele Kinos ihre Rollos nicht hochzogen. Der Start großer US-amerikanischer Sommerhits wurde lieber in den Herbst verschoben. Auch wenn diese sehr spezielle italienische Kinotradition längst nicht mehr so befolgt wird, war das Land am 20. Juli 2023 noch nicht für „Barbenheimer“ bereit. In Italien startete nur „Barbie“ in den Kinos, „Oppenheimer“ folgte erst fünf Wochen später Ende August. Beide Filme wurden zu großen Hits, doch zum erfolgreichsten Film des Jahres avancierte das Regiedebüt „Morgen ist auch noch ein Tag“ der populären Schauspielerin Paola Cortellesi. Der in Schwarz-weiß gedrehte Film startete Ende Oktober, doch schon innerhalb der ersten vier Wochen sahen über drei Millionen Menschen den 1946 in Rom spielenden Film und mauserte sich zum ebenso kulturellen wie sozialen Phänomen.


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Es waren die Geschichten ihrer Großmütter und Ur-Großmütter, die Paola Cortellesi zu ihrem Debütfilm inspirierten, weshalb sie ihn sich von Beginn an nur in Schwarz-weiß vorstellte. Sein Thema ist rohe häusliche Gewalt, doch die ungewöhnliche Tragikomödie setzt auch auf Humor und Verfremdung, wie etwa eine Tanzszene in Zeitlupe zeigt, in der die Schläge des Ehemanns gegen die Hauptfigur Delia (gespielt von Cortellesi) nur angedeutet werden und wie Pantomime wirken. Cortellesi wollte die Gewalt bewusst nicht im Detail zeigen, weder als „Splatter“, was nur abgelenkt hätte, noch „cool“ wie in Serien. Es ging ihr auch um das Absurde, was sich in Anleihen bei der „Opera Buffa“ manifestiert. Zudem war es ihr wichtig, auch junge Zuschauer ins Kino zurückzuholen, die sich während der Pandemie an das Streamen gewöhnt hatten.

Paola Cortellesi und Valerio Mastandrea in „Morgen ist auch noch ein Tag“ (© Tobis Film)
Paola Cortellesi und Valerio Mastandrea in „Morgen ist auch noch ein Tag“ (© Tobis Film)

Die wiedergefundene Liebe zum einheimischen Kino

Das ist ihr mit „Morgen ist auch noch ein Tag“ vor allem bei den Italienerinnen gelungen. Der Film sorgte für lange Schlangen vor den Kinos; viele Zuschauerinnen sahen ihn mehrmals, brachten Freundinnen, aber auch ihre Ehemänner mit. Als dann Ende November eine 22-jährige Italienerin von ihrem Ex-Freund erstochen wurde, wandelte sich „Morgen ist auch noch ein Tag“ sogar zum Politikum, weil der aufrüttelnde Film wie kein anderer häusliche Gewalt und überdies eine Frau aus der Arbeiterklasse zeigt, die endgültig genug hat; durch eine grandiose Schlussszene vermittelt der Film aber auch viel Hoffnung.

Bis heute haben „Morgen ist auch noch ein Tag“ in Italien über 5,5 Millionen Zuschauer gesehen. Der Film ist der künstlerische und kommerzielle Höhepunkt einer Entwicklung, die sich durch das gesamte Jahr 2023 hindurch beobachten ließ. Die Italiener lieben wieder ihre eigenen Filme und haben den Weg zurück ins Kino gefunden. Das ist eine höchst erfreuliche Entwicklung, denn wegen Covid waren die Besucherzahlen in Italien stärker als in jedem anderen westeuropäischen Land eingebrochen. 2023 aber zählte man wieder 70,6 Millionen Kinobesucher, was 1,2 Kinobesuchen pro Kopf entspricht. Das ist mehr als in Deutschland, wo 2023 insgesamt 87 Millionen Besucher verzeichnet wurden, was 1,04 Besuche pro Einwohner entspricht.

Bemerkenswert ist dabei auch der im europäischen Vergleich nach Frankreich zweithöchste Marktanteil des einheimischen Films mit 26 Prozent. Interessanterweise punktet dabei das italienische Autorenkino durch eine große Genrevielfalt und mit so gestandenen Filmemachern der mittleren Generation wie Matteo Garrone, Francesca Archibugi oder Paolo Genovese sowie den Altmeistern Marco Bellocchio und Nanni Moretti.

Gegenbild zur ultrarechten Politik: „Ich Capitano“ (© Greta De Lazzaris / X Verleih AG)
Gegenbild zur ultrarechten Politik: „Ich Capitano“ (© Greta De Lazzaris / X Verleih AG)

Matteo Garrones „Ich Capitano“ startet Anfang April 2024 in den deutschen Kinos zeitgleich mit „Morgen ist auch noch ein Tag“. Mit seinem harten Flüchtlingsdrama erreichte Garrone in Italien 800.000 Zuschauer. Das ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die ultrarechte Regierung um Giorgia Meloni und Matteo Salvini seit Jahren Flüchtlinge diskreditiert und auf Abschreckung durch Härte setzt. Aber ähnlich wie in Polen, wo die Rhetorik einer nationalistischen Regierung durch den Film „Green Border“ ein künstlerisches Gegenstück hervorrief, beweist auch „Ich Capitano“, dass es ein weltoffenes, liberales Italien gibt.


Reflexion über das Filmemachen in Zeiten der Streamer

Zu den schönsten Filmen des Jahres 2023 zählte auch Nanni Morettis künstlerisches Comeback „Il sol dell’avvenire“ (zu Deutsch: „Für eine sonnige Zukunft“). Moretti spielt darin den Filmregisseur Giovanni, der einen Film über die innere Zerrissenheit eines kommunistischen Parteifunktionärs dreht, der sich 1956 als Chefredakteur der Parteizeitung „L’Unita“ mit den Folgen des ungarischen Volksaufstandes auseinandersetzen muss. In einem römischen Arbeiterviertel gastierte gerade der ungarische Zirkus Budavari, als russische Truppen den Aufstand blutig niederschlagen. Moretti macht daraus eine augenzwinkernde Mischung aus „Film im Film“ und Reflexion über das Filmemachen in den Zeiten der Streamer. Als sein von Mathieu Amalric gespielter enthusiastischer französischer Produzent verhaftet wird, muss Giovanni den Gang zu Netflix antreten. In einer satirischen Szene beten deren Vertreter gebetsmühlenartig ihr Selbstverständnis herunter: „Netflix sieht man in 190 Ländern“, lautet das Totschlagargument, und ein Film ohne „What-the-fuck-Moment“ könne ebenso wenig funktionieren wie ein Film mit unbekannten italienischen Schauspielern. Am Ende sind es dann Produzenten aus Korea, die den geplanten Film retten, da sie vor allem das avisierte tragische Ende lieben.

Im wunderschönen Finale findet Moretti einen schönen Kniff, um nicht nur die Schauspieler und alle Crewmitglieder für eine bessere Zukunft demonstrieren zu lassen, sondern er lässt auch Stars wie Jasmine Trinca aus früheren Moretti-Filmen unter den fröhlich-entspannten Filmdemonstranten mitmarschieren. Endlich kann sich Giovanni und mit ihm Moretti den Traum erfüllen, einen Film mit vielen italienischen Liedern zu drehen, die genau wie in „Morgen ist auch noch ein Tag“ eine wichtige dramaturgische Funktion ausüben und zur Emotionalität des Films beitragen. In Italien feierten 620.000 Zuschauer Morettis amüsant-melancholische Utopie. In Deutschland dagegen ist noch gar nicht klar, ob und wann der Film überhaupt in die Kinos kommen wird.

Nanni Moretti im selbst inszenierten „Il sol dell’avvenire“ (© Sacher Film/Fandango/Le Pacte/France 3 Cinéma 2023)
Nanni Moretti im selbst inszenierten „Il sol dell’avvenire“ (© Sacher Film/Fandango/Le Pacte)

Reine Genrefilme wie „Die letzte Nacht in Mailand“ (525.000 Zuschauer in Italien) mit dem derzeit omnipräsenten Pierfranceso Favino sind hierzulande nur auf DVD oder VoD zu sehen. In dem Film von Regisseur Andrea di Stefano spielt Favino einen korrupten Polizisten während seines letzten Arbeitstages. Ab 16. Mai kann man Favino, den derzeit wohl auch international bekanntesten italienischen Star, in der Tragödie „Der Kolibri“ auch in den deutschen Kinos sehen. Das auf mehreren Zeitebenen spielende Familiendrama dreht sich um Selbstmord, tragische Todesfälle, unerfüllte Lieben, Familiengeheimnisse und Lebenslügen. Bei aller Tragik glänzt „Der Kolibri“ vor allem durch seine Besetzung. Jungstars wie Benedetta Porcaroli oder Fotinì Peluso spielen neben Bérénice Béjo, Laura Morante oder Nanni Moretti, der in einer schönen Nebenrolle als wortbrüchiger Psychiater zu sehen ist. Dennoch verblüfft es aus deutscher Perspektive, dass auch dieser fast schon depressive Film der Regisseurin Francesca Archibugi in Italien eine halbe Million Zuschauer erreichte.


Ein Boom auch des internationalen Autorenkinos

Der wiedergefundene Erfolg mit italienischen Autorenfilmen ist dabei Teil eines in Europa derzeit einmaligen Booms des gehobenen Arthouse-Kinos. Viele Filme gestandener Regisseure laufen deutlich besser als in Deutschland. Dafür gibt es Gründe. Zuallererst wird viel mehr Plakatwerbung gemacht. Ganz Rom war Anfang Januar mit Werbung für den neuen Hayao-Miyazaki-Film „Der Junge und der Reiher“ übersät, der dann auch prompt zwei Wochen lang auf Platz eins der Kinocharts stand. Bevor Wim Wenders’ „Perfect Days“ startete, zeigten einige Kinos in Rom wochenlang fast alle früheren Filme von Wenders.

Das italienische Kinointeresse schließt auch internationales Arthouse-Kino wie „Perfect Days“ ein (© DCM/MASTER MIND Ltd)
Italienische Zuschauer würdigen auch internationales Kino wie „Perfect Days“ (© DCM/MASTER MIND)

Generell wird in Italien – wie auch in Frankreich – viel auf Previews gesetzt, so dass sich Filme schon vor dem Kinostart besser herumsprechen. Noch bis Ende April kann man attraktive Zehnerkarten der Arthouse-Kette „Circuito Cinema“ für 50 Euro erwerben, die ein Jahr lang gültig ist. Das schlägt sich dann in den Zuschauerzahlen nieder. In der aktuellen italienischen Top 10 des Jahres 2024 führt „Poor Things“ mit 1,2 Millionen Zuschauern vor „Dune 2“. Auf Platz drei findet sich „Der Junge und der Reiher“ mit 930.000 Zuschauern. „Perfect Days“ liegt auf dem 6. Rang und hat mit 765.000 Tickets in keinem Land der Welt mehr Zuschauer erreicht als in Italien.

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