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Filmliteratur: Der unsichtbare Dritte

Ein essayistischer Interview-Band lotet die Spannungsästhetik von Alfred Hitchcock und deren Einfluss auf den deutschen Film aus

Veröffentlicht am
12. April 2024
Diskussion

In Deutschland war Alfred Hitchcock lange unterschätzt; es bedurfte der euphorischen Rezeption in Frankreich, um ihm auch rechtsrheinisch die gebührende Anerkennung zu verschaffen. Ein essayistischer Interview-Band lotet nun die Spannungsästhetik von Hitchcock aus und untersucht deren Einfluss aufs deutsche Filmschaffen. Sieben Regisseurinnen und Regisseure von Sophie Linnenbaum bis Christian Petzold sprechen ausführlich über ihren Bezug zum "Master of Suspence".


Von der Stummfilmära bis in die 1970er-Jahre unterlag der (in Deutschland) lange unterschätzte, vom französischen Autorenkino aber gefeierte Regisseur Alfred Hitchcock unzähligen Wandlungen. Ein (Studien-)Aufenthalt im Deutschen Reich während der Reifezeit des Weimarer Kinos beflügelte die minutiös-kalkulierte Inszenierung des britischen Jesuitenschülers. Und auch die begnadeten Partituren von Bernard Herrmann leisteten im Werk des vielzitierten „Meister des Suspense“ einen wesentlichen Beitrag.

Hitchcocks Wechselwirkung auf deutsche Regisseurinnen und Regisseure diskutiert der Filmkritiker Josef Schnelle anhand klug ausgewählter Produktionen in dem schmalen Band mit dem Titel „Der unsichtbare Dritte. Hitchcock und der deutsche Film“. Gekonnt spielt er dabei mit der fiktiven Anwesenheit des berühmten Regisseurs. Die Interviews mit sieben Gesprächspartnern fußen auf einer Produktion des Deutschlandfunks, für den Schnelle in einer dreistündigen Sendung einen neuen Zugang zu Hitchcock anvisierte. Die Texte wurden für die Buchpublikation etwas umgeformt und angereichert. So findet sich zu allen Filmschaffenden eine knappe biografische Einordnung sowie eine ausgewählte Filmografie. Dasselbe gilt für die in den Interviews analysierten Hitchcock-Filme inklusive einer kleinen Literaturauswahl.


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Legendäre Schlüsselszenen aus „Der unsichtbare Dritte“, „Das Fenster zum Hof“, „Der Mann, der zu viel wußte“ (1956), „Psycho oder „Die Vögel mit ihren ikonografischen Perspektiven helfen, gut in die Analyse und die Rezeptionsästhetik mit den unterschiedlichen Gesprächspartnern zu kommen. Die Essays starten stets mit einem Hinweis auf den Treffpunkt der Gesprächspartner, die konkrete Situation und die Stimmung des Gegenübers.

Magisch aufgeladen: "Der unsichtbare Dritte" (MGM)
Magisch aufgeladen: "Der unsichtbare Dritte" (© MGM)

So erklärt Christian Petzold anhand der Flugzeugszene aus „Der unsichtbare Dritte“ den Begriff vom „Geheimnis der aufgeladenen Bilder“, indem er fein ziselierte Spannungsmuster, die Gestaltung des filmischen Raums und die Einsamkeit der Figur wie der Existenz von Cary Grant einordnet. Den Totalverlust gesellschaftlicher und materieller Sicherheiten des Helden verknüpft er mit seinem eigenen Film „Die innere Sicherheit“. Dem bekennenden Hitchcockianer Petzold imponierte in „Der Mann, der zuviel wußte (1956) der Gesang, die Musik, die herzzerreißende Emotionalität und das Timing der Angst von Doris Day um den Sohn. Kino funktioniert hier perfekt als Ort der (Alb-)Träume, als Spiegel menschlicher Ur-Angst.

Die Regisseurin Sophie Linnenbaum katapultierte sich 2022 mit ihrem Spielfilmdebüt „The Ordinaries“ in die oberste Liga reflektierter Filmemacherinnen. Sie räumt ein, durch die raffinierten Fenster-Blicke in „Das Fenster zum Hof“ viel für ihre eigene Arbeit gelernt zu haben: über Seelenzustände, Geheimnisse von Familien, Sehnsucht nach Harmonie, die Rätsel der Wahrnehmung oder des Changierens. Ihren eigenen Film betrachtet Linnenbaum als intuitiv-emotionale Geschichte, nicht nur für absolute Cineasten. In Hitchcock sieht sie einen Vertreter des kollektiven Film-Bewusstseins, gewissermaßen einen „Faust“. Die junge Regisseurin gehört zweifellos einer anderen Generation an, ist weit weg von der Neigung zur Hitchcock-Andacht „alter Männer“. Sie genießt ehrlichen Kitsch, nicht aufgesetztes Pathos – und gibt das so auch in der Arbeit mit den Schauspielern weiter.


Ein Meister der offenen Dramaturgie

Andreas Kleinert spricht von seiner traumatisierenden Begegnung mit „Die Vögel“, die er als Siebenjähriger zusammen mit seiner ängstlichen Tante im Fernsehen kennenlernte. Seine Träume, die Erinnerungen als eine „fiktive Lüge“ empfinden, wirken bis heute nach. Am Kontrollfreak Hitchcock liebt Kleinert die Eleganz, die Bedeutung der Kostüme, die Liebe zum Detail, den Blick des Zuschauers und die Lenkung der Gefühle. Kleinert erkennt im Werk von Hitchcock ein großes Lehrpotenzial für Studenten, insbesondere durch die Moderne der Musik und die Verbindung von Bild und Ton. Wichtige inhaltliche Kategorien sind für Kleinert die Präsenz des Unterbewusstseins sowie die offene Dramaturgie einer Geschichte.

Hermine Huntgeburth imponiert an Hitchcock hingegen die psychologische Kameraführung, die Gestaltung der Vorder- und Hintergründe sowie die „moderne Sprache“. Unterhaltung muss für die Filmemacherin eine hohe Qualität besitzen; eine große „Kopierlust“ in Bezug auf den Meister verspürt die Regisseurin hingegen nicht. Rainer Kaufmann schätzt an „Psycho“ die Komposition der Duschszene, die Musik und die Ambivalenz des Wassers. Der psychologische Ansatz des Schwarz-weiß-Thrillers sei bei seiner Entstehung völlig neu gewesen. Einen gewissen Einfluss Hitchcocks auf seine eigenen Filme wie „Die Apothekerin“ oder „Kalt ist der Abendhauch“ räumt Kaufmann gerne ein.

Bleibend verstörend: "Psycho" (Paramount)
Bleibend verstörend: "Psycho" (© Paramount)

Nana Neul fasziniert in „Verdacht hingegen vor allem das Melodrama. Sie mag die Perspektive der Frau, die schöne Liebesgeschichte mehr als den Thriller. Die Inszenierung der Figuren und die Führung der Schauspieler sei bei Hitchcock wahnsinnig kleinteilig; darin liege die schlichte Schönheit des Suspense. Ihr jüngster eigener Film, die Ehegeschichte „Check out“, kommt diesem Gedanken sehr nahe. Am Vorbild schätzt sie, „dass Hitchcock künstlerische Filme gemacht hat, die ein großes Publikum angesprochen haben. Das sollte man auch in Deutschland zu schaffen versuchen.“


Der Marionettenspieler

Dominik Graf betrachtet „Die Vögel als „nackten Horror“, der Angst und Schrecken verbreitet. Höchstes Lob zollt er Hitchcocks Trauma-Verarbeitung und Bernard Herrmanns Musik, insbesondere der Kamerafahrt über die Musikpartitur in „Der Mann, der zuviel wußte“. Es sei eine echte Kunst, den Zuschauer mittels Spannungsbewegung komplett in eine Szene mitzunehmen und diese Atmosphäre zu erzeugen. „Vertigo stehe für das Thema ewige Liebe und Wahn: das Gesicht der Erinnerung, im Unterbewusstsein gespeichert, decouvriert Hitchcock als Marionettenspieler. Diese Dimension ist für Graf beim Film und beim Filmen immer mit dabei. Er selbst strebt danach, alle Künstlichkeit und alles Artifizielle zu vermeiden und Gefühle in den Mittelpunkt zu stellen.

Gelegentliche Fehler bei der Kommasetzung oder Druckfehler können den positiven Eindruck des inspirierenden Werkes mit den anschaulichen Filmsequenzen nicht trüben. Schade ist allerdings, dass die relativ kleinen Filmstills (4,5 x 2,3 cm) bei dunkleren Szenen im Detail oft schwer zu erkennen sind.

Doris Day, James Stewart in "Der Mann, der zuviel wußte" (ZDF)
Doris Day, James Stewart in "Der Mann, der zuviel wußte" (© ZDF)


Literaturhinweis

Der unsichtbare Dritte. Hitchcock und der deutsche Film. Von Josef Schnelle. Schüren Verlag, Marburg 2023. 181 S., zahlreiche Abb., 22 EUR. Bezug: In jeder Buchhandlung oder hier.

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