Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien

Dokumentarfilm | Deutschland 2019 | 130 Minuten

Regie: Bettina Böhler

Der multimediale Künstler und Performer Christoph Schlingensief (1960-2010) war über mehrere Jahrzehnte ein ebenso berüchtigter wie bewunderter Quertreiber, der sich mit seinen Arbeiten in Theater, Film, Oper und Kunst auch in den politischen Diskurs einschrieb. Das dokumentarische Porträt arbeitet Schlingensiefs Leben und Werk aus vier Jahrzehnten auf und verlässt sich dabei vollständig auf kongenial montiertes Bildmaterial, das die Persönlichkeit des Künstlers plastisch greifbar werden lässt. Verweisreich und gewitzt entsteht so ein außergewöhnlicher Zugang auf ein einzigartiges Oeuvre, das auch Schlingensief-Kennern immer wieder Überraschungen bietet. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Filmgalerie 451
Regie
Bettina Böhler
Buch
Bettina Böhler
Musik
Helge Schneider
Schnitt
Bettina Böhler
Länge
130 Minuten
Kinostart
20.08.2020
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Weltkino (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Dokumentarisches Porträt des einzigartigen multimedialen Künstlers Christoph Schlingensief, in dem Bildmaterial aus vier Jahrzehnten sein Leben und Werk greifbar macht.

Diskussion

Im Oktober 2020 wäre er 60 geworden, dabei durfte er nicht einmal mehr seinen 50. Geburtstag feiern. Am 21. August 2010 starb der multimediale Künstler und Performer Christoph Schlingensief an den Folgen der Krebserkrankung, der seine Arbeiten in den beiden letzten Lebensjahren galt: „Mea Culpa“ und „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. Schlingensief war ein Solitär, kam aus keiner Schule, bildete keine Schule und ist heutzutage bestenfalls noch eine etwas unscharfe Erinnerung an eine Dauer-Power-Performance auf vielen Kanälen.

Als er, der notorische Apothekersohn aus Oberhausen, starb, konnte er auf ein „40-jähriges Schaffen“ zurückblicken, weil er sehr, sehr früh begonnen hatte zu drehen. Seinen ersten Film drehte Schlingensief, Jahrgang 1960, im Jahre 1968. Mit einer Kamera, die alle zehn Sekunden neu aufgezogen werden musste, was dem Regisseur ein Improvisieren mit einer bewusst fehlerhaften Stop-Motion-Technik abverlangte. Fasziniert staunte der junge Schlingensief über die Effekte reizvoll-seltsamer Doppelbelichtungen fehlerhaft behandelter Urlaubsfilme seines Vaters.

„Erinnern heißt vergessen!“

Viele Jahre später wird er, hierzu befragt, retrospektiv den ersten Ansatz eines ästhetischen Entwurfs extrapolieren. Es geht um das mysteriöse Überschreiben von scheinbar realistischen Bildern, gewissermaßen um eine Bohrung in die Tiefe des Bildes, getrieben von den eigenen Ängsten und Obsessionen, aber auch von älteren Ängsten und Obsessionen älterer Generationen, die gewissermaßen in den Körpern der Nachgeborenen eingelagert sind. Schlingensief findet dafür die Formel: „Erinnern heißt vergessen!“ Wenn er Auskunft über seine Arbeit gibt, tut er dies zumeist mit großem Ernst, freut sich dann über gelungene Zuspitzungen und Pointen, die er mit lausbubenhaftem Charme in die Kameras spricht.

Die Cutterin Bettina Böhler, die schon mit Schlingensief gearbeitet hat (Terror 2000 – Intensivstation Deutschland, Die 120 Tage von Bottrop), hat sich daran gemacht, das Leben und die Arbeiten Schlingensiefs noch einmal in gut zwei Stunden Revue passieren zu lassen: von den Anfängen 1960 bis zum Finale 2010. Ein Glücksfall, denn Böhler hatte offenkundig vollen Zugriff auf das Archiv, verfügt kenntnisreich und gewitzt über Material aus Privatfilmen der Familie Schlingensief, Interviews, Talkshow-Auftritten, TV-Berichten, Ausschnitten aus Spielfilmen, Theaterinszenierungen und -proben, den späten Kunstinstallationen und den visuellen Tagebuchnotizen des Erkrankten.

Schlingensief ziemlich pur

„Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien“ ist auch insofern ein Glücksfall, als Böhler sich dafür entschieden hat, einen „Found Footage“-Film zu produzieren, und komplett darauf verzichtet, ihren Protagonisten Schlingensief mit Zeitzeugen und Weggefährten zu umstellen, die ihren Senf dazugeben. So gibt es hier Schlingensief ziemlich pur: Von den Anfängen als recht selbstbewusstes und aufgekratztes Einzelkind, das gerne auch schon mal in drag performt, über die das Publikum polarisierende Filmarbeit, die Hinwendung eines Verächters des Theaters zum Theater und zur Oper (Bayreuth) bis hin zu den experimentellen Fernseharbeiten und schließlich den Plänen für ein Festspielhaus in Afrika.

Es dürfte nicht allzu viele Menschen geben, die das Gesamtwerk in nuce überschauen, zumal ja die Filme bis heute keine vollständige Retrospektive erfahren haben, Theaterinszenierungen und Kunstinstallationen zumeist ortsgebunden sind und keine Monografie zum Werk vorliegt. Dahin ist dieser Film nun ein erster Schritt. Man kann verfolgen, wie treffsicher Schlingensief überlieferte Formate derart zu überschreiben vermochte, bis sie wieder produktiv wurden. Schon die ganz frühen Filme spielen mit Genres und arbeiten mit Montageeffekten, die beim frühen Film, wahrscheinlich bei den „Vätern der Klamotte“ andocken, unterfüttert mit altklug-prätentiösen Off-Kommentaren eines kalauernden Narzissten. Später dann die auf meisterliche Weise punktgenauen Überschreibungen von Veit Harlans Opfergang, Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre oder Alan Parkers Mississippi Burning mit deutscher oder westdeutscher Mentalität und Medienrealität.

Krude theoretische Versatzstücke und Fernsehpersiflagen

Dazu sieht man Schlingensief, der kein Theoretiker war, aber spitzbübisch mit einer kruden Mischung theoretischer Versatzstücke irgendwo zwischen Baudrillard, Artaud, Zizek und Helge Schneider jongliert („Die Realität ist die Inszenierung!“), von „Selbstprovokation des inneren Dreckslochs“ spricht und davon, es gelte, Hitler „abzunutzen“. Als Sohn eines Apothekers versucht er sich darin, ein ganzes Land „mit Gift zu heilen“. Später hat er instinktsicher und höchst effektiv Fernsehformate wie „Big Brother“, die Talkshow oder auch die Quizshow („Sortieren sie bitte folgende vier Konzentrationslager in der richtigen Reihenfolge von Nord nach Süd!“) entweder politisiert oder zur Kenntlichkeit entstellt, wurde auf der „documenta“ 1997 für das Skandieren des Slogans „Tötet Helmut Kohl!“ kurzzeitig festgenommen und schüttete Jürgen Möllemann für dessen antisemitische Impulse tote Fische in den Vorgarten.

Unvergessen die Gründung der Partei „Chance 2000“ mit dem Slogan „Scheitern als Chance“ und dem Aufruf an alle Arbeitssuchenden, den Kanzler im Urlaub am Wolfgangsee zu besuchen und durch ein gemeinsames Bad den dortigen Wasserpegel so zu heben, dass der Kanzler nasse Füße bekommt. In Talkshows wird er gerne als Provokateur vorgestellt, allerdings in der Verkleidung des Lieblingsschwiegersohns, der sich dagegen wehren muss und auch wehrt, „everybody’s darling“ zu werden. In Alexander Kluge findet Schlingensief einen geduldigen, wohlmeinenden Zuhörer, der ihm in den eigenen subversiven Fernsehformaten eine Plattform bietet. Und dann hört man eben, dass Schlingensief lange brauchte, um Buñuel, Fassbinder und Alfred Edel als Vorbilder zuzulassen.

Überhaupt Fassbinder: viel Prominenz aus der Fassbinder-Entourage taucht bei Schlingensief wieder auf: von Irm Hermann über Margit Carstensen bis hin zu Peter Kern und Volker Spengler. Und einmal versteigt sich Schlingensief zu der steilen, aber bedenkenswerten These, für Fassbinder sei Veit Harlan viel wichtiger gewesen als Douglas Sirk. Dem müsste man einmal nachgehen!

Elternbesuche stets mit Kamera

Böhler kennt ihr Material zudem so gut, dass es ihr gelingt, auch höchst unterhaltsame Volten anzubieten. Etwa die Marotte des Filmemachers, bei Besuchen seiner Eltern immer eine Kamera dabeizuhaben und sie in der Begegnung zu konfrontieren. Auch bei einer Feier hält der Sohn eine Rede – und man bemerkt, wie Familie und Bekanntschaft darauf hoffen, dass der Junge jetzt nichts „Falsches“, also etwas Wahres sagt. Denn auch das ist eine eigentümliche Qualität Schlingensiefs: er kennt weder falsche Scham noch professionelle Diskretion. Nach der Bayreuth-Erfahrung sitzt er zusammen mit Gregor Gysi auf einer Bühne und verliest furchterregend dümmliche Briefe seiner Gastgeberin auf dem Grünen Hügel.

Und nicht zuletzt gelingt es Böhler sogar noch, „mellow“ Wim Wenders als Running Gag in den Film einzubauen. Der hatte einst auf dem Festival in Cannes die typische Wenders-Preziose angebracht, es gelte die Bilder der Welt zu verbessern, um damit die Welt zu verbessern. Die Art von Kunstreligion hat Schlingensief wahrscheinlich die Haare zu Berge stehen lassen, als er innerlich ausrief: „Das eben gerade nicht! Eher das Gegenteil davon!“ Die Bilder hässlich machen, rein mit der Angst, der Verzweiflung, dem Dreck, dem in den Zellen eingelagerten Bösen, um so eine Abfuhr zu ermöglichen.

Am Ende, so stellt er selbst klar, hätte er das Wiedersehen mit den Eltern gerne noch etwas herausgezögert, aber dann wird der Film elend und traurig. Aber davor…

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