© MGM/Warner Home (aus „Thelma & Louise“)

On the Road Again!

Die Corona-Einschränkungen öffnen den Blick für eine neue Wertschätzung der Road Movies als Inbegriff der Bewegung

Veröffentlicht am
11. Dezember 2020
Diskussion

Auszuschwärmen in die Welt ist ein alter Menschheitstraum, den das Kino in unzähligen Variationen stets eifrig bedient hat. In Zeiten, da man nicht reisen kann und nicht mal mehr die Wohnung grundlos verlassen darf, füllen gerade die Filme der Straße die weißen Flecken der Fantasie am glänzendsten aus. Eine Hymne auf die Road Movies, die nie so sehr als Sirenen der Freiheit erschienen wie jetzt.


Wollte man den Zustand unserer heruntergedimmten Gesellschaft in einem Film ausdrücken, mag man an ein Kammerspiel denken. An einen Geisterspuk im verfluchten Haus. An eine Dystopie über eine Pandemie, vor der sich alle daheim verbarrikadieren. Aber Moment, diesen Film gibt es ja schon. Er dokumentiert die neue Realität. Menschen, die sich zur Begrüßung die Hand gaben, nach dem Sport abklatschten, zum Trost oder aus Spaß in den Arm nahmen – das war einmal.

Abstandhalten ist das Gebot der ernsten Stunde. Alle haben die sozialen Praktiken rasch erlernt. Wie Geheimagenten, die sich vor dem Überwachungsobjekt verbergen, nähern sie sich ihrem Vordermann höchstens auf anderthalb Meter. Jeder Teeniefilm, jeder Krimi, jede Gefängnisserie – was auch immer man in seiner Isolierzelle schaut, scheint eine alte Epoche zu porträtieren. Alles völlig aus der Zeit gefallen. Wir bleiben zu Hause. Als Videobotschaft von Prominenten in sozialen Netzwerken eingetrichtert. Als Wasserzeichen ins Signal der TV-Sender eingebrannt. Wo man früher Menschen sah, erkennt man heute Virenschleudern. Sogar in sich selbst.

In die Welt schwärmen, ohne Sinn und Zweck

Herumstreunern ist gerade nicht so angesagt, schon klar. Vor lauter staatstragender Stubenhockerei sollte man aber nicht vergessen, dass Ausgangsbeschränkungen menschliche Bedürfnisse unterdrücken. Filme können uns daran erinnern. Das Genre, das am weitesten wegführt aus der erzwungenen Häuslichkeit, aus dem Bewusstsein im Ausnahmezustand, ist das Road Movie. In die Welt zu schwärmen, ohne Zweck und ohne Ziel, das schmeckt nach Freiheit, nach Frischluft, nach Tapetenwechsel. Kein Road Movie erzählt ausschließlich von zwangloser Herumtreiberei. Doch alle riechen danach.

Auf der Suche nach einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das nur noch als Mythos existiert: "Easy Rider" (©Columbia)
Auf der Suche nach einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das nur noch als Mythos existiert: "Easy Rider" (©Columbia)

Die Literatur kennt die große Fahrt schon seit Homer. Odysseus’ Fortbewegungsmittel war sein Schiff, seine Straße das Mittelmeer. Ziellos war er nicht. Der Veteran des Trojanischen Krieges versuchte, zu seiner Frau Penelope zurückzukehren. Auch durch Zirze und Sirenen war er nicht vom Weg abzubringen. Der übermäßige Konsum von Ritterromanen machte Cervantes’ Helden Don Quichote so unternehmungslustig, dass er zu Ross mit seinem Gefährten Sancho Pansa in die Welt zog. In den Fünfzigern des Zwanzigsten Jahrhunderts war es schließlich der Beatnik Jack Kerouac, der mit „On The Road“ („Unterwegs“) das moderne literarische Straßenabenteuer samt Drogentrips und Selbsterfahrung begründete. Die Helden sind auf ihren Reisen immerfort unterwegs. Womit wir schon beim Film wären.

Kino ist Bewegung

Denn Kino heißt Kinesis heißt Bewegung. Sie veranschaulichen zu können, war der Unique Selling Point des frühen Films. Legendär der gleichsam in die Leinwand einfahrende Zug, vor dem die ersten Zuschauer der Gebrüder Lumière angeblich 1895 aus dem Saal stürmten – um nicht von ihm überfahren zu werden. Mit dem Kinematographen gab es plötzlich einen Apparat, der Bewegungen aufzeichnet. Zum marktfähigen Produkt wurde der Film erst deutlich später. Neun Jahre zuvor hatte Carl Benz seinen Motorwagen Nummer 1 patentieren lassen. Ein Apparat, der Menschen in Bewegung setzt. Doch für die Erfindung der Lumières spielte er noch keine Rolle. Erst mit Fords Modell Tin Lizzie drang das Auto Jahrzehnte später ins kulturelle Bewusstsein – erst als größere Teile der amerikanischen Bevölkerung sich ein Auto leisten konnten, nahm die motorisierte Massenbewegung ihren, zunächst zaghaften, Anfang.

Der Kinematograph begann seine Karriere als Rummelattraktion. Vom elitären Kunstfilm, der so langsam sein will, dass man der Zeit beim Zerrinnen zuschaut, konnte noch keine Rede sein – die versuchte feindliche Übernahme durch das Bildungsbürgertum stand dem Kino erst noch bevor. Schon der erste Western, The Great Train Robbery von 1903, lebte nicht vom Pferd allein. Regisseur Edwin S. Porter trug die Montage in den damals noch stummen Film. Bewegung konnte nun auch unsichtbar erzählt werden. Indem der Held nicht bloß durchs Bild lief, sondern in der nächsten Einstellung ganz woanders herumturnte, schloss der Zuschauer auf seine Ortsveränderung. Diesen unsichtbaren Übergang mit Fantasie zu füllen, erscheint uns heute selbstverständlich.

Ein Mann der Straße des Stummfilmkinos: Chaplins "The Tramp" (1915)
Ein Mann der Straße des Stummfilmkinos: Chaplins "The Tramp" (1915)

Screwball-Comedys, Gangsterfilme und moderne Western

Knapp 30 Jahre danach, die USA litten unter der Großen Depression, war das Publikum in der Sprache der Leinwand längst alphabetisiert. Die Filme konnten nun sprechen. Die ersten Screwball-Comedys mit ihren schlagfertigen Dialogen entstanden. In Es geschah in einer Nacht (It Happened One Night) entflieht die wohlhabende junge Frau Ellie (Claudette Colbert) ihrem goldenen Käfig und prallt auf den arbeitslosen Journalisten Clark Gable. Das irrwitzige Dialogtempo fügte sich gut in den steten Wechsel der Fortbewegungsarten mit Überlandbussen, Zügen und per Anhalter. Im April 1934, in der Hochzeit der wirtschaftlichen Depression, kurz nach der Leinwandpremiere von „It Happened One Night“, schlug die letzte Stunde eines ganz anderen Pärchens der Straße: Bonnie und Clyde. Faye Dunaway und Warren Beatty spielten sie in Arthur Penns gleichnamigem Drama erst Ende der Sechziger als telegene Outlaws, deren Brutalität von der Polizei am Ende noch übertroffen wird – in einer endlosen Kaskade zersieben sie den Ford V8 des Gangsterpärchens. In den Dreißigern hätte der den Hollywood-Studios auferlegte Hays Code so explizite Gewaltdarstellungen nicht erlaubt.

Das Road Movie ist auch eine Fortsetzung des Western mit motorisierten Mitteln. Waren John Wayne und Randolph Scott noch zu Pferde unterwegs, ritten Dennis Hoppers Easy Rider 1969 auf Harleys über die Highways. Ging es im Western-Mythos der Frontier um die Erschließung vermeintlich menschenleerer Weiten, führt das Road Movie seine Helden über endlose Meilen schnurgerader Pisten. Hopper nahm die Spur und das Lebensgefühl von Kerouacs „Unterwegs“ auf. Anders als Bonnie und Clyde waren die von Peter Fonda und Hopper selbst verkörperten Easy Rider bloß friedfertige Kiffer, die einfach nur ihr Ding machen wollen. Doch selbst das passt den (ein wenig wohlfeil stumpfsinnig dargestellten) Hinterwäldlern nicht in den Kram, die selbst vorm Mord an den Bikern nicht zurückschrecken. So ist „Easy Rider“, zu einer Zeit gedreht, als jungen Amerikanern der Einzug in die Armee und damit der Vietnamkrieg drohte, bis heute der Prototyp der motorisierten Freiheitserzählung.

Rebellische Ikonen: Faye Dunaway und Warren Beatty in "Bonnie und Clyde" (
Rebellische Ikonen: Faye Dunaway und Warren Beatty in "Bonnie und Clyde" (©Warner)

Menschen flüchten oder finden zueinander

Doch nicht jeder Streifen, in dem mal jemand über den Highway braust, ist gleich ein Road Movie. Sicher nicht Hitchcocks Psycho, in dem Marion Crane mit unterschlagenem Geld und ihrem unterwegs eingetauschten Wagen in Bates Motel einzukehren versucht. Doch dass die Straße auch zur Horrorfilmkulisse taugt, bewies Steven Spielberg in seinem Frühwerk Duell. Ein Mann wird von einem Truck gejagt, ohne dessen Fahrer je zu Gesicht zu bekommen. Die Straße ist auch der Platz für alle, die kein Zuhause haben oder von dort vor Elend und Misshandlungen flohen. So wie Geena Davis’ Thelma, die in Thelma & Louise vor ihrem Ehemann auf einen Road Trip mit ihrer besten Freundin flüchtet. Als Louise (Susan Sarandon) sie vor einer Vergewaltigung nur mit Waffengewalt bewahren kann, versuchen die beiden, nach Mexiko zu türmen. Ihren abrupten Abschluss findet die Flucht im Grand Canyon. Umzingelt vom FBI, stürzen sich Thelma & Louise mit ihrem Wagen in den Abgrund. Regisseur Ridley Scott ästhetisierte diesen Doppelselbstmord als vollendeten Ausdruck der Freiheit.

"Thelma & Louise" (©Tobis)
"Thelma & Louise" (©Tobis)

Aber Road Movies müssen nicht existenziell sein. In ihrer komödiantischen Form erzählen sie von privaten Problemen. Menschen, die nicht miteinander können, finden zusammen – anschaulich in Besser geht’s nicht von James L. Brooks, in dem sich die Kellnerin Carol (Helen Hunt) und der zwangsgestörte Menschenfeind Melvin (Jack Nicholson) näherkommen. Social Distancing praktiziert Melvin von Natur aus, am Ende freundet er sich dann sogar mit seinem schwulen Nachbarn an. In Little Miss Sunshine kommt eine ganze Familie (um Toni Collette und Greg Kinnear) in einem gelben VW-Bus zu sich selbst, als sie die kleine Tochter zu einem bizarren Schönheitswettbewerb für Kleinkinder kutschiert.

Fantasievoller als Reisedokumentationen

Road Movies können dem Zuschauer die weite Welt fantasievoller als Reisedokumentationen erschließen. Die Helden der Straße können dabei auch auf untypischen Vehikeln reisen. Das bewies David Lynch drei Jahre nach Lost Highway ungewohnt geradlinig, als er den Rentner Alvin in The Straight Story 400 Kilometer mit einem fahrbaren Rasenmäher zurücklegen ließ, um seinen Bruder zu besuchen. Die belgischen Komiker Gustave Kervern und Benoît Delépine fuhren in Aaltra quer durch Europa, um den Chef einer Landmaschinenfabrik zur Rede zu stellen. Eines seiner Geräte hat sie verstümmelt, sie müssen die Tour also in Rollstühlen absolvieren. Gespielt wurde Herr Aaltra von Aki Kaurismäki, der mit Leningrad Cowboys Go America oder Tatjana selbst Road Movies gedreht hat. In seinem melancholischen und wortkargen Stil ließ Kaurismäki darin in der Wendezeit der späten Achtziger- und frühen Neunzigerjahre Menschen von beiden Seiten des Eisernen Vorhangs aufeinanderprallen.

Die realsozialistischen Systeme hatte man zuvor eher nicht mit großer Mobilität verbunden. Dennoch – oder womöglich deswegen – war das Road Movie auch dort ein beliebtes Genre. Für Herrmann Zschoches Weite Straßen – stille Liebe, in dem er an der Seite von Jaecki Schwarz durch die DDR rauschte, lernte Manfred Krug das LKW-Fahren. Die erworbenen Fertigkeiten konnte Krug fünf Jahre später in Wie füttert man einen Esel gleich nochmal anwenden, um nach seinem Umzug in die BRD in der ARD-Serie „Auf Achse“ schon wieder als Fernfahrer zu reüssieren. Derweil näherte sich Wim Wenders in Im Lauf der Zeitverträumt und zeitlupenhaft der damals noch deutsch-deutschen Grenze. Ein frühes Road Movie nach der Wiedervereinigung führte Detlev Buck nach Mecklenburg-Vorpommern. In Wir können auch anders reisen Joachim Król und Horst Krause als westdeutsche Analphabetenbrüder Kipp und Most auf einem Pritschenwagen durch die nordöstliche Pampa.

Straßengerangel und Wettkämpfe

Das Hollywood-Kino der vergangenen Jahrzehnte nutzte die Straße gern, um derbe Buddy Movies über gute Freunde beim Über-die-Stränge-schlagen zu zeigen. Filme voller Herrenwitze, denen bei all der zur Schau gestellten guten Laune auch etwas Zwanghaftes anhaftete, wie Road Trip von Todd Phillips, der später auch erfolgreich die „Hangover“-Reihe drehte, bevor er sich im vergangenen Jahr dem Joker zuwandte. Ein Revival erlebte die Straße in jüngerer Zeit als Ort des Wettkampfs. Betont testosteronorientierte Filme entstanden, deren zur Schau gestellte Männlichkeit sich nostalgisch ausnimmt. Sei sie so romantisch und kunstvoll ausgeleuchtet wie in Nicolas Winding Refns Drive oder als grobe Reifenschlacht wie in der „Fast-and-Furious“-Reihe. Die Reisen in ferne Galaxien ohne traditionelle Straßen aus „Star Wars“ schlachtet Disney mit The Mandalorian nun auch in Serienform aus.

Unterwegs vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis: "The Mandalorian" (© Walt Disney)
Unterwegs vor langer Zeit in einer weit, weit entfernten Galaxis: "The Mandalorian" (© Walt Disney)

Mit welchen Gefährten man in den Road Movies der Zukunft von der Freiheit kostet, bleibt abzuwarten – Autos mit Elektroantrieb oder Brennstoffzelle, doch wieder zurück zum Pferd? Irgendwann wird die Zeit der Stubenarreste ja hoffentlich überwunden sein. Vorerst kann man den eigenen Drang in die Welt, das „einfach bloß raus“ beim Blick auf Laptop oder Fernseher kompensieren. Hoffentlich wird es nicht nur Filmfreunden bald wieder möglich sein, eigene Road Trips zu erleben. Ohne Zweck, ohne Ziel, versteht sich. Jetzt steht erstmal die österliche Heldenreise an, die ihren Höhepunkt mit der Auferstehung feiert. Bis die mobile Gesellschaft wieder erwacht, kann es noch eine ganze Weile dauern.

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