Die 71. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen waren die erste Festivalausgabe unter der neuen Leitung von Madeleine Bernstorff und Susannah Pollheim. Neben neuen Strömungen in den Wettbewerben fiel ein starker Fokus auf die Filmgeschichte auf, mit dem das Festival auch auf die eigene Geschichte zurückblickte. So boten eine Reihe zu Kurzfilmen aus der DDR, die seinerzeit in Oberhausen liefen (oder gerade nicht), und ein Programm mit Omnibusfilmen viele spannende Entdeckungen. Teils auch mit überraschend unmittelbarem Anschluss an die Gegenwart.
„Das wird nischt“, meint die Lehrerin Birgit ein wenig verlegen, als sich ihre tastenden Worte über die Unzufriedenheit in ihrem Beziehungsleben einmal verfangen haben. Und setzt dann von Neuem an, so genau und aufrichtig wie möglich, ihre Bedürfnisse nach Gleichberechtigung und Selbstentfaltung zu beschreiben. Zuvor teilte ihr Partner Rüdiger, in der Badewanne sitzend, seine Sicht auf die Ehe mit, unbeschwert und ein wenig breitbeinig, dabei nicht unsympathisch. Birgit und Rüdiger sind eines von drei Paaren, die Petra Tschörtner 1984 in einem Potsdamer Wohnblock aufsuchte und erzählen ließ: über Kompromisse, Gemeinsamkeiten, Unvereinbarkeiten und versteckte Wünsche. Es sind weniger Interviews als Begegnungen, bei denen es auch für Tschörtner spürbar darum ging, etwas herauszufinden. Und in denen sich das intime Sprechen über Verständigung und Zusammenleben auf etwas Gesellschaftliches hin öffnet. Der Mikrokosmos der Familie, den „Hinter den Fenstern“ (DDR 1984) beschreibt, meint immer auch andere, größere Formen der Koexistenz.
Bei den 71. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen war Tschörtners Abschlussfilm an der Hochschule Babelsberg, der bei den (damals) Westdeutschen Kurzfilmtagen ohne Wissen der Regisseurin mit gleich mehreren Preisen ausgezeichnet worden war, im Rahmen des Themas „Umwege zum Nachbarn - Der Film der DDR in Oberhausen“ zu sehen. Die behutsame Stimmung, die den Film trägt, erzählt auch etwas über die diesjährige Festivalausgabe. Für die künstlerische Leiterin Madeleine Bernstorff, die das Festival gemeinsam mit der Geschäftsführerin Susannah Pollheim von Lars Henrik Gass übernommen hat, war es die erste Ausgabe. Bernstorff, Filmkuratorin und Mitbegründerin der feministischen Kinogruppe „Blickpilotin“, kennt das Festival gut; seit 2000 war sie in der Auswahlkommission tätig.
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Auch wenn sich ihre kuratorische Handschrift wohl erst in den nächsten Jahren zeigen wird (die neue Leitung ist erst seit Anfang Januar tätig, viele Entscheidungen wurden noch in Zusammenarbeit mit Gass getroffen), war eine leichte Kursänderung bereits spürbar. Nach dem Boykott des letztjährigen Festivals durch Filmschaffende und dem Versuch, einen Umgang mit einer im Kulturbetrieb polarisierten Debatte über den Nahostkonflikt und den Krieg in Israel und Gaza zu finden, sucht sich das Festival neu zu sortieren. Der Ton ist besonnener und weniger ansagend; und auch Bernstorffs langjährige Geschichte mit kollektiver und feministischer Filmarbeit hinterlässt Spuren.
Auf Umwegen zum Ziel
Auch Suchbewegungen können ein Statement sein. Geradezu programmatisch zirkulierte der Begriff „Umweg“, den der Kurator Felix Mende für das Programm zum DDR-Kino gewählt hatte, um die Wellen von Annäherung und Abgrenzung in der deutsch-deutschen Filmgeschichte zu beschreiben, mal mehr, mal weniger explizit auch durch andere Reihen. So beschrieb Lukas Foerster in seiner Einführung zum experimentierfreudig kompilierten Programm „Reisegefährten - Omnibusfilme in der Filmgeschichte“ seine Annäherung an diese oft verschmähte Präsentationsform des Kurzfilms als „Detour“. Und in dem feinen, von Bernstorff gemeinsam mit der Schriftstellerin Sissi Tax zusammengestellten Programm zu dem US-amerikanischen Avantgarde-Filmemacher Hollis Frampton tauchte die richtungsoffene Bewegung sogar explizit auf. Framptons spekulativ-theoretischer Essay, den Bernstorff und Tax für das Heft „CineZine“ ins Deutsche übersetzten und in Auszügen vorlasen, trägt den Titel „Abschweifungen zur fotografischen Agonie“.
Abseits der Wettbewerbe galt der Fokus in diesem Jahr also verstärkt dem Historischen. Ein Workshop-Programm, gestaltet von dem Filmwissenschaftler Christoph Hesse, befasste sich mit den Outtakes von Claude Lanzmanns „Shoah“; das gesamte Material, 210 Stunden Film, ist seit kurzem online zugänglich.
„Umwege zum Nachbarn“ bedeutete zwangsläufig auch eine Beschäftigung mit der eigenen Festivalgeschichte. Mit unvoreingenommenem Blick hat sich Mende, der die DDR über Filme kennengelernt hat, dem Konvolut an Filmen angenähert, die das Festival zwischen den Jahren 1955 und 1990 aus der DDR zeigte, zeigen wollte, aber nicht konnte, oder gerade eben nicht zeigen wollte. Etwa „Kommando 52“ (DDR 1965) von Walter Heynowski, ein grelles Porträt des berüchtigten Söldnerkommandos im Kongo, das mit O-Tönen und Bildern des Grauens gegen den westdeutschen Nachbarn feuerte und die NS-Vergangenheit zur alleinigen Erblast der Bundesrepublik erklärte.
Auf die Absage der Auswahlkommission folgte prompt die Replik. In der
Fernsehproduktion „Wink vom Nachbarn“ (DDR 1966)
von Harry Hornig begleitet Reporter Gerhard Scheumann das Filmfestival
Oberhausen ’66, als sei er in ein schmuddeliges Bahnhofskino hineingeraten, in
dem ein Haufen sittenloser Verirrter Avantgarde spielt. Von heute aus ist
manches daran unfreiwillig komisch, anderes unfreiwillig toll: etwa die Interviews
mit der arbeitenden Bevölkerung des Ruhrgebiets, die mit dem Publikum im Kino
und den „Leinwandexzessen“ gegengeschnitten werden.
Abseits von Dissidenz und Linientreue
Die Auswahl folgte keiner chronologischen Ordnung; ebenso wenig schloss sie sich einer weit verbreiteten westdeutschen Lesart an, die die künstlerische Produktion in der DDR in ein binäres System von Dissidenz und Linientreue hineinzwängt. Mit Programmen wie „Innenansichten“, in dem Tschörtners „Hinter den Fenstern“-Film neben „Haus.Frauen - Eine Collage“ (1982) von ihrer Kommilitonin Helke Misselwitz zu sehen war – in einer Villa in Potsdam kondensieren sich über ein Jahrhundert die Lebenswege verschiedener Frauen –, aber auch „Nach der Arbeit“, „Gleisänderung“, „Zufluchtsort Kunst“ (mit Filmen von unter anderem Jürgen Böttcher, Lutz Dammbeck und Helke Misselwitz) sowie ein Programm, das sich dem lyrischen Werk von Konrad Herrmann widmete, bahnte sich die Reihe eigene Pfade durch die ostdeutsche Filmgeschichte.
1955, nur ein Jahr nach der Gründung der (bis 1959 Westdeutschen) Kurzfilmtage, liefen in Oberhausen erste Filme aus der DDR. Das Selbstverständnis des Festivals als Forum für Verständigung, Annäherung und nachbarschaftliche Beziehungen kam während des Kalten Krieges in dem Motto „Weg zum Nachbarn“ zum Ausdruck. Doch selbstverständlich war die Präsenz der DDR in Oberhausen nie. Die Kulturpolitik in der DDR unterlag Schwankungen. Nicht immer war abzusehen, wann ein Film die rote Linie überschritt, und über die genauen Gründe kann in manchen Fällen (auch wegen fehlender Aktenvermerke) nur spekuliert werden. Beeinflussungsversuche gab es auf beiden Seiten. Während in der DDR die Filme von der Hauptverwaltung Film beim Ministerium ausgesucht wurden, mussten sie in der Bundesrepublik bis 1966 vom innenministeriellen Ausschuss für Ost-West-Filmfragen freigegeben werden. Mit „Martins Tagebuch“ (DDR 1956) von Heiner Carow und „Vom Lebensweg des Jazz“ (Wolfgang Bartsch, Peter Ulbrich, DDR 1956) waren im Programm zwei Filme vertreten, die diesen Ausschuss nicht passierten. Carows Porträt eines Schülers, der nach einer Abwärtsspirale von Lehrern wie Mitschülern zurück in die Gemeinschaft geholt wird, hatte aber auch im eigenen Land schon eine Zensurgeschichte hinter sich. Nach einer einmaligen Vorführung in Oberhausen wurde der Film für eine gewerbliche Auswertung nicht zugelassen; vermutlich wollte man dem positiven Bild ostdeutscher Pädagogik keine Bühne geben.
Feministisch im Omnibus
Um Nachbarschaftsbeziehungen anderer Art ging es in der Reihe „Reisegefährten - Omnibusfilme in der Filmgeschichte“, die in den nächsten Jahren fortgesetzt wird und sich in der ersten Ausgabe feministisch grundierten Episodenfilmen aus den 1980er-Jahren widmete. Als „Zwitterwesen zwischen Lang- und Kurzfilm“ und „Spezialfall kollektiver Autor*innenschaft“ sind dem Omnibusfilm gleich mehrere Paradoxien eingeschrieben. Die Auswahl stellte verschiedene Stile, Ästhetiken und Produktionskontexte vor; gezeigt wurde dabei grundsätzlich immer der ganze „Omnibus“ – und nicht diese oder jene besonders gelungene, besonders interessante oder besonders kuriose Episode. Dass es dabei mitunter auch etwas auszuhalten galt, gehörte dazu. So vereint der Film „Sieben Frauen – Sieben Todsünden“ (1986), in dem sich Helke Sander, Bette Gordon, Maxi Cohen, Chantal Akerman, Laurence Gavron, Ulrike Ottinger und Valie Export jeweils einer „Todsünde“ annahmen, Experimentierfreude und anarchischen Witz.
Der Film lässt sich auch als Antwort auf die gleichnamigen, männlich dominierten Vorgängerfilme verstehen, die in den Jahren 1952 und 1961 entstanden (mit Episoden von unter anderem Roberto Rossellini, Jean-Luc Godard und Claude Chabrol). Nur zwei Jahre später versuchten Helke Sander, Helma Sanders-Brahms und Margarethe von Trotta mit „Felix“ (1988), Ästhetiken des Neuen Deutschen Films und feministische Ansätze in das Genre einer populären Beziehungskomödie einzuschleusen. Material aller Episoden ist Ulrich Tukur. So produktiv war das Verhältnis zum klassischen Beziehungskistenfilm dann aber doch nicht.
Ganz nahe an den Ängsten der Gegenwart
An die Gegenwart anschlussfähige Zeitbilder zeichneten gleich zwei Filme, die Themen der oppositionellen Umwelt- und Friedensbewegung der frühen 1980er-Jahre aufgriffen. „Die Gedächtnislücke“ (1983), entstanden in der Klasse von Helke Sander an der Hamburger Hochschule für bildende Künste, nimmt eine Giftkatastrophe im Jahr 1979 zum Anlass, um über die Kontamination des Alltags nachzudenken, „Aus heiterem Himmel“ (1982) reagiert in neun Episoden (aus dem Kontext des „Verbands der Filmarbeiterinnen“) auf die eskalierende atomare Bedrohung in Zeiten von NATO-Doppelbeschluss und der Stationierung von Mittelstreckenraketen.
Die Formen reichten von der klassisch beobachtenden Dokumentation über eine angestrengt theaterhafte Endzeitparabel bis hin zu Paranoia-Drama und Performancekunst. Ebba Jahn etwa ließ sich in ihrer Episode von Broschüren über den Bau für ABC-Bunker („Machen Sie aus Ihrem Schutzraum einen fröhlichen Partykeller“) inspirieren. Während die Kamera Räume in der U-Bahnstation Pankstraße im Berlin-Wedding abtastet, die zur Nutzung als Schutzbunker umgebaut wurden, teilt eine Off-Stimme Verhaltensregeln für den Ernstfall mit. In Zeiten, in denen die EU mit einem absurden Video für ein Notfallpaket im Krisenfall wirbt, wirkte das Kaleidoskop einer Gesellschaft in Angst gar nicht mehr so fern.